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Menschlicher Voraussicht nach hätte nun nichts mehr dem im Wege gestanden, daß Peter Boy Eschels bis an sein Lebensende diesen oder einen andern akademischen Lehrstuhl innegehabt und seine Weisheit in die Ohren mehr oder minder zahlreicher Hörer geträufelt hätte. Tief aber im Unterbewußten seines sonst so verstandesklaren Wesens lebte ihm ein Trieb, dessen Stärke er bis gegen Ende seiner Fünfzigerjahre nur negativ empfinden konnte: die Liebe zu seiner angestammten Heimat! Seine Frau hatte er nicht in Morsum zeigen mögen; nachdem sie ihm davongelaufen, mochte er nicht einmal sich selbst dort wieder blicken lassen. Die Sylter schätzen unsolide Eheverhältnisse keineswegs, und das Urteil der bestbürgerlichen deutschen Gesellschaft bedrückte ihn nicht halb so, wie diese ihm wohlbekannte Tatsache. Neben manchen andern echt Sylter Eigenschaften hatte Gondelina auch die Liebe zu Farben und malerischen Werten von ihm geerbt – aber der Professor D. Peter Boy Eschels schickte lieber seine Tochter Jahr für Jahr nach Paris, als daß er sich einmal mit ihr auf Sylt hätte blicken lassen.

So lag ihm nur ein dumpfes Heimweh tief im Unbewußten, bis eines Tages die Liebe zur Heimat aktiv, bewußt, wollend daraus entsprang. Das geschah, als er zum erstenmal in seiner süddeutschen Zeitung eine zufällige Notiz über den für Sylt geplanten Eisenbahndamm fand. Morsum wurde genannt – nie zuvor hatte er dies Wort außerhalb Sylts je gedruckt gesehen –, und die Tatsache an sich machte schon einen ganz eigenartigen Eindruck auf ihn. Es folgten bald ausführlichere Berichte. Professor Eschels fand es plötzlich nötig, sich eine Flensburger, eine Kieler, eine Hamburger Zeitung zu halten. Als seine Tochter von ihrem Winteraufenthalt in Paris heimkam, verspottete sie ihn lustig ob dieser Papierflut, die ihr ärgerlich gegen die Sparsamkeit ging, aber er sagte – zum erstenmal in ihrem Leben – zu ihr: »Liebes Kind, das verstehst du nicht.«

Allmählich lehrte er sie dann verstehen, bis zu einem gewissen Grade freilich nur. Sie konnte ihm doch nicht ganz folgen, wenn er von den Gefahren sprach, die eine solche Verbindung mit dem Festlande für den geborenen Insulaner barg. Er ließ sie Roseggers »Zugrunde gegangenes Dorf« lesen – sie gab es ihm mit der Bemerkung zurück: »Wenn die Leute so hinterwäldlerisch sind, ist's doch nur gut, daß sie endlich aufgerüttelt werden!« Peter Eschels seufzte: »Wenn aber niemand da ist, der den Übergang vermittelt, gehen sie eben zugrunde.«

Er sprach, er dachte nichts anderes mehr. Gondelina beobachtete ihn dabei. Bald glaubte sie denn auch erkennen zu können, worauf er hinstrebte. Aber sie wollte ihm den Weg nicht erleichtern, fand sie selbst doch nicht unbedenklich, ihn zu gehen. Für sich weniger als für den Vater. Sie selbst meinte bei einem Wechsel mehr gewinnen als verlieren zu können. Die Professorenfrauen und -töchter, zwischen denen sie aufgewachsen war und mit denen sie auch heute noch lebte, waren ihr herzlich gleichgültig und mehr als das: sie sah den oft kleinlichen Ehrgeiz, den Neid der einen auf die andere wegen der bevorzugten Stellung des Gatten oder Vaters, sah die Engigkeit der kleinen Stadt nur mit spöttischer Duldung ohne das geringste Mitempfinden. Wenn sie dagegen an die Weite der Sylter Landschaft dachte, die sie bis jetzt nur von Bildern her kannte, an seinen leuchtenden Himmel, das wechselvolle Meer, dann schlug ihr Herz höher. Ob aber ihr Vater nicht doch geistige Anregung dort vermissen würde? Vergebens suchte sie sich vorzustellen, was er in Morsum dafür eintauschen könnte.

Im Herbst 1913 bewilligte der Deutsche Reichstag die Mittel für den Dammbau.

Professor Eschels warf die Zeitung auf den Tisch. »Und sie haben nicht einmal einen Pastor!« rief er erregt aus, sprang vom Frühstück auf und rannte durchs Zimmer.

»Du brauchst mir nicht erst zu erzählen, daß du dich als Pastor für Morsum melden willst«, bemerkte Gondelina und klopfte geruhig ihr Ei auf, »das weiß ich längst.«

Er blieb mitten in seinem Lauf stehen und starrte sie an.

»Wie kommst du darauf?« fragte er fassungslos. »Nie noch habe ich an derartiges gedacht!«

»Wirklich nicht? Das wundert mich«, antwortete Gondelina, und hielt in ihrer Tätigkeit inne. »Seit Monaten denkst und sprichst du nichts anderes als Morsum –«

»Nun wohl, ich wollte auch hinreisen, zum Frühjahr, wenn der Bau wirklich begönne – vielleicht hernach noch einmal in den großen Ferien – vielleicht kämest du einmal mit nach Westerland. Aber mein Amt hier, meine Stellung, dies Haus – aufzugeben, um mich als Pastor in Morsum zu vergraben? Gondelina, du weißt nicht, was du redest!«

Gondelina wandte sich wieder ihrem Ei zu und schwieg. Sie wußte nicht recht, ob sie sich über ihres Vaters Erklärung nicht eigentlich freuen müßte – ob Morsum auf die Dauer nicht langweilig werden könnte – aber das Meer, die Farben dort, Dünen und Heide, wie Andreas Dirks sie malte –

»Und vielleicht hast du dennoch recht«, sagte ihr Vater beklommen. »Was würde es nützen, käme ich als ›Badegast‹ dorthin? Sie würden nicht wieder warm mit mir. Wollte ich ehrlich als Helfer kommen, müßte ich wohl alles auf eine Karte setzen und die Dammbaujahre dort seßhaft werden. Aber drei lange Jahre – und danach?«

»Daß du's nur weißt, Vater, ich komme mit. Aber gern! Sylt muß eminent malerisch sein.« –

Anderntags fuhr Peter Boy Eschels nach Kiel zum Generalsuperintendenten von Schleswig-Holstein; der rang die Hände.

»Mein hochverehrter Herr Professor, das ist wahrhaftig eine Donquichotterie ohnegleichen! Verzeihen Sie, daß ich's ehrlich ausspreche! Wir sind noch nicht einmal entschlossen, dort überhaupt einen Pastor wieder hinzusetzen. Ein Dorf von knapp fünfhundert Seelen – widerhaarigen Seelen, im Vertrauen gesagt. Wenn die Bahn erst läuft, kann Morsum wohl von Westerland oder Keitum mitversorgt werden –«

»Wenn die Bahn erst läuft, wird dort keine Gemeinde mehr zu versorgen sein«, entgegnete Peter Eschels unerschüttert. »Kennen Sie Roseggers ›Zugrunde gegangenes Dorf‹?«

»Zu solcher Lektüre habe ich wenig Zeit«, meinte der Generalsuperintendent und blickte mit leichtem Lächeln auf die Aktenstapel neben seinem Schreibtisch. Peter Eschels aber fühlte, daß dies Lächeln nicht den Akten, sondern ihm selbst galt und errötete wie ein Backfisch, der in seiner ersten Liebe ertappt ist.

»Kurz und gut: ich melde mich hiermit offiziell. Dagegen läßt sich wohl nichts einwenden; nicht wahr?«

»Allerdings nicht, und da Sie in diesen drei Jahren der Vakanz der erste Bewerber sind, dürfte Ihrer Wahl wohl nicht viel im Wege stehen«, lachte der Generalsuperintendent. Doch dann wurde er wieder ernst. »Ich wünschte wahrhaftig, es träte noch ein Gegenkandidat auf und schlüge Sie aus dem Felde! Was tue ich nur, um Ihren verzweifelten Entschluß noch ins Wanken zu bringen?«

»Sagen Sie ruhig: verrückten Entschluß!« antwortete Eschels und fuhr sich mit allen fünf Fingern durch seinen weißen Haarschopf, der widerborstig gen Himmel strebte wie in seinen jüngsten Jahren. »Wenn Sie aber darauf hoffen, mich noch irgendwie überreden zu können, dann zeigen Sie mir damit nur, daß Sie uns Morsumer nicht kennen, unter denen ich der vornehmste bin. Wir lassen uns wohl überzeugen, niemals aber gegen die eigene Überzeugung überreden. Und überzeugen kann mich keine Predigt mit Menschen- noch Engelszungen mehr, daß die Morsumer jetzt nicht meiner Hilfe bedürften.« – –

So zog Professor D. Peter Boy Eschels Ostern 1914 im Pfarrhause von Morsum ein. Die Morsumer sahen dem ohne große Rührung zu. Allerdings empfanden sie als schicklich, daß ihr Pfarramt wieder besetzt wurde. Mit Eschels Vorgänger hatten sie sich nicht zum besten verstanden. Er war ihnen mit »Sünde« und »göttlicher Gnade« aufs Fell gerückt und hatte einen Blaukreuzverein gründen wollen, obgleich in den Morsumer Kaffeepunschen schon aus Sparsamkeitsgründen sich nicht mehr Rum befand, als jedermann vertragen konnte. Endlich waren sie ihn wieder losgeworden, da sie ihm gestanden: wenn er nicht freiwillig ginge, würden sie ihn zum Dorf hinaussteinigen. Aber Eschels oder vielmehr Peter Bleik Bun war ja einer der Ihren, der würde ihnen wohl nicht mit solch dummerhaftigem Kram kommen – und wie es sich gehörte, erschien bei seiner Einführung aus jedem Hause des Dorfes ein Vertreter, um die Kirche anständig zu füllen.

Drüben auf dem Festlande begann die Anfuhr des Dammbaumaterials. Ein erster Faschinenwall lief ins Watt hinaus, ein erster Bagger kam aus Wilhelmshaven –

Dann brach der Krieg aus.


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