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62

Nein, es gab im Augenblick keine Verbindung nach Sylt. Der gewöhnliche Postdampfer nach Hoyerschleuse lag eingefroren mitten auf dem Wattwege von Sylt noch eben auf deutschem Gebiet, so daß man nicht einmal Dänemark einen Vorwurf daraus machen konnte. Ein Motorboot war auch ausgesandt und nicht wieder heimgekehrt.

»Wo ist denn das geblieben!« fragte Elisabeth unwillkürlich.

»Das findet sich wohl im Frühjahr wieder«, meinte der Beamte gemütlich. »Jetzt taut es auch? Gewiß, aber mag sein, daß sie noch nicht wieder genug Wasser haben. Die Post? Ja, die war gestern noch hier, aber die soll nun über die Spundwand geschickt werden. Ist ein ungeschicktes Arbeiten jetzt da. Dänemark mag nicht mehr recht, und der Weg über die Spundwand – nein, für so Damen ist der sicher nichts. In voriger Woche sind in einer Nacht dreißig Sylter hinübergegangen, mit ihren Frauen, sollen auch ein paar Kinder dabeigewesen sein. Tags wird scharf aufgepaßt, da schlichen sie sich nachts durch, aber einer ist abgestürzt und hat sich das Bein gebrochen. Nun wollen die Herren vom Bau das durchaus nicht mehr. Schließlich haben sie ja auch die Verantwortung –«

Von alledem verstand Elisabeth nicht eben viel. Sie kannte die Nordsee auch nicht besser als Heinrich Bremer vor vier Jahren. Es lag ja auch eigentlich kein Grund vor, gerade heute oder überhaupt jetzt in dieser ungünstigen Jahreszeit nach Sylt zu gehen und Martin aufzusuchen. In Berlin hingegen wurde sie erwartet – und Martin? Er würde sie doch nur heimschicken. Aber sie fühlte sich sonderbar unschlüssig.

Inzwischen hatte Heinrich Bremer auf dem Arbeiterwege längst wieder Sylt erreicht. Ihm war die lange Nachtfahrt nicht leicht geworden. All seine Nerven sprachen ihm von Elisabeth; seine Sinne hatten sie ganz in sich aufgenommen. Als er in Neumünster den Gegenzug traf, hatte er seinen ganzen Willen aufbieten müssen, nicht umzukehren und zu ihr zurückzufahren. Dann aber, als er endlich in Klanxbüll landete, war er froh, sich nicht nachgegeben zu haben. Auf der Fahrt die Ostküste entlang hatte er nicht gemerkt, wie sehr das Wetter seit gestern früh sich verschlechtert hatte. Hier sah er's. Das war kein Sturm – nein, durchaus nicht. Aber der Wind kam aus Südwest, das Wasser stand hoch, und es goß auch hier aufs scheußlichste. Bahrenfeld riet ihm sogar ab, jetzt sogleich nach der Spundwand hinauszufahren. Er würde in der Mitte wieder mehrere hundert Meter zu Fuß laufen müssen. »Warten Sie doch den Postzug ab, der in der Mittagspause zwischen den Schichten ganz in eins hinübergehen wird.« Aber Bremer hatte keine Ruhe mehr.

Irgend etwas trieb ihn. Er schluckte ein hastiges Frühstück herunter und ging dann über den Binnendeich zur Abfahrtstelle der Dammzüge. Es stand ein Schotterzug zur Abfahrt nach Barthels Kuhfenne bereit, aber das Wasser ging noch zu hoch, um dort mit Erfolg schütten zu können. Da ließ Bahrenfeld, der mitgekommen war, die Maschine abkoppeln und sie allein für Bremer laufen. »So kommen Sie doch wenigstens noch übers Holländer Loch hinweg; es ist nicht gemütlich, zu Fuß über das lange Wehr zu turnen, wenn der Strom hochgeht.« Und Bremer war es zufrieden, weniger, weil ihm das lange Wehr ungemütlich war, als der Zeitersparnis halber. Und während er nun abfuhr, hellte sich das Wetter schon auf.

»Es wird kein böser Tag«, meinte der Lokomotivführer und schaute gleich Bremer erleichtert der zunehmenden Helligkeit entgegen. »In der Nacht war's schlimmer.«

»Gut, daß ich doch zurückkam«, dachte Bremer, »obgleich – halten könnte auch ich die Spundwand nicht, wenn Sturm käme« – und mußte über der Vorstellung fast lachen. Und beugte sich vor und beobachtete, wie unter den Schienen das Wasser drängte, aber nirgend sah er einen Schaden.

Über der Dracht stieg er ab und ließ die Maschine zurückfahren. Das Wasser fiel, Wind und Regen ließen deutlich spürbar nach, aber beides war doch noch stark genug, ihm den Weg zu erschweren. Nun hörte er auch das unaufhörliche harte Schrillen der Schotter, die vom Wasser gehoben und geschoben wurden. Hörte aus weiter Ferne das laute Stöhnen der Ankerketten am großen Bagger, aber sehen konnte er ihn nicht. Grau in grau schloß sich eng der Horizont rings um ihn, nichts als Wasser unten und Wasser oben und zwischen beidem dieser einsame unsichere Fußsteg mitten durch die unruhig bewegte Wasserwüste hindurch. »Dies wäre kein Weg für Elisabeth«, schoß es ihm durch den Sinn. Er sah sie wieder. Er fühlte sie. Ihm war, als rührte sie ihn an. Ihr Erschrecken, als er Martins Anwesenheit auf Sylt erwähnte, ließ auch jetzt noch seine Nerven leicht zusammenzucken. So körperhaft nah war sie ihm plötzlich, daß er voller Entsetzen mitten auf einem wackelnden Brett stehenblieb, um hinter sich zu blicken. Doch da war nicht mehr als vor ihm – war nur die unendliche undurchsichtige graue Einsamkeit, dadurch der schmale Schienenweg lief.

Er ging weiter, aber sein Herz schlug beklommen. »Mir ist verständlich, wie die Menschen dieser Gegend zu ihren Hexen und Gespenstern kommen. Man ist allein hier draußen und ist es doch nicht. Hier spürt man den andern Menschen, auch wenn man ihn nicht sieht« – so redete er zu sich selbst; mehr, um Gefährten an den eigenen Gedanken zu haben, als weil ihm seine Gedanken darüber so besonders wichtig gewesen wären. Wenn er als Kind durch den langen dunklen Korridor der elterlichen Wohnung geschickt wurde, hatte er leise für sich gepfiffen – da fehlte nicht viel, daß er auch jetzt zu pfeifen begonnen hätte. »Der Mensch ist doch nicht mehr gewöhnt, allein zu sein.«

Aber mit weiter fallender Ebbe flauten Wind und Wellen immer mehr ab. Der Himmel riß auf, ein erst mattes, dann allmählich stärker sich färbendes Frühlingsblau kam von Westen her über die Insel. Der große Bagger zeigte sich zunächst als wesenloser Schatten, nahm dann aber überraschend schnell an Körperlichkeit zu. Nun konnte Bremer von fernher schon Arbeitergruppen erkennen – dann spähte er nach einem Zuge aus, der ihn etwa mitnehmen könnte, es fand sich aber keiner.

Endlich kam er der Insel nahe, traf hier über dem grünen Außenland die Kolonne Steinhof der Firma Hurtig, und da er wußte, daß Martin Eickemeyer unter Steinhof arbeitete, warf er dem Werkführer im Vorübergehen ein gemütliches: »Wird ein schöner Tag heute!« zu.

Der Mann lachte – lachte in einer Art, daß Bremer dachte, er wäre betrunken.

»Das mögen Sie wohl sagen, Herr Baumeister! Aber wir sind zwei Nächte über schon draußen, und die waren nicht immer schön. Zwischenein hatte ich mich mal unter den Rammbock dort verkrochen, um ein paar Augen voll Schlaf zu nehmen. Kommt da der Bauführer Kniebel vorbei, fragt meine Leute: ›Wo ist der Steinhof?‹, und als sie mein Versteck verraten, fällt er über mich her und verprügelt mich wie einen Schuljungen – wie einen Schuljungen, Herr Baumeister!« Und wieder lachte der Mann mit heiserer Stimme.

»Weshalb haben Sie's denn so eilig?« fragte Bremer erstaunt.

»Der Everschop kommt mir voran, das geht doch nicht –« da ging Bremer weiter und ärgerte sich. Diese Wettarbeit erschien ihm so sinnlos. Er war mehr für ruhige, solide Ausführung und meinte, wenn man nur keine Minute unnütz vertäte, schaffte man ebensoviel, wie diese Werkführer mit ihrer Rekordwut, dabei sie nur die Leute schinden mochten. Bremer sah sich flüchtig noch nach Martin Eickemeyer um, aber er konnte ihn nicht entdecken und wollte nicht stehenbleiben, um nicht noch einmal der trunken anmutenden Geschwätzigkeit dieses Steinhof anheimzufallen. Betrunken war er wohl nicht, war wohl nur übermüde, oder als hätte er irgendwie ein schlechtes Gewissen.

Auf dem Lagerplatz traf er Hannes Scholz, und während er sich noch von ihm Bericht erstatten ließ, tauchte am Tor schon Pastor Eschels auf und winkte ihm von weitem.

»Daß man den Pastor auch nie los wird!« entfuhr es ihm ärgerlich. Dann aber, da er das Lächeln seines Technikers sah, tat ihm seine Äußerung schon wieder leid, und er ging Eschels mit doppelt höflichem Gruß entgegen.

»Sie müssen mir erlauben, auf der nächsten Maschine hinauszufahren, Bremer«, sagte Eschels bittend. »Ich muß unbedingt den Werkführer Steinhof sprechen. Der Arbeiter, der bei mir wohnt, ist seit zwei Nächten nicht heimgekommen.«

»Die Kolonne Steinhof arbeitet im ersten Spülfeld am Vorland. Da können Sie zu Fuß hingehen, Herr Pastor. Ich glaube aber, es wird nicht nötig sein. Die Kolonne hat tatsächlich zwei Nächte hindurch gearbeitet –«

»Aber nur je zwanzig Stunden am Tage. Die andern sind alle für eine kurze Nachtruhe in ihre Baracke zurückgekommen, nur der Eickemeyer nicht. Wenn Sie mich begleiten könnten, Bremer? Ich kann mit dem Steinhof nicht recht auskommen.«

Es lag Bremer nahe, Eschels Bitte abzuschlagen, denn er fand es prinzipiell falsch, daß er selbst sich in die Angelegenheiten der Firma Hurtig mischte. Aber er dachte an Elisabeth und ging mit, trotz des erstaunten Blickes, den Hannes-Hannes ihm nachsandte. Er ging mit und ließ Eschels von Martin erzählen, ohne seinerseits ein Wort hinzuzufügen.

Der Werkführer Steinhof stellte sich zunächst unwissend und sehr erstaunt über des Pastors Anfrage. Ja, der Eickemeyer wäre heute nicht zur Arbeit gekommen, er hätte gestern schon schlapp gemacht – aber dann fragte Bremer binnen zwei Minuten auch das Weitere aus ihm heraus. Als Eickemeyer nicht mehr mitgekonnt hätte, mochte er sich wohl eine Weile hingelegt haben – »da hinten, Herr Baumeister, wo das viele Seegras liegt, wir arbeiteten gestern ja da draußen. Das war schon gegen Abend, und hernach ist er dann wohl heimgegangen. Ich habe ihn nicht mehr gesehen.«

»Heimgegangen!« sagte Eschels bitter. »Sie haben ihn dahin legen lassen, und dann hat ihn die Flut mitgenommen, bewußtlos wie er war – denn daß der Eickemeyer die Schottergabel nicht abgibt, solang er selbst noch stehen kann, das weiß ich.« Er wunderte sich nicht, daß der Werkführer ihm nicht mehr widersprach. Aber er sah mit Erstaunen, wie farblos Bremers Gesicht wurde.

»Sie nehmen sich's mehr zu Herzen als dieser Steinhof tut«, sagte er beim Rückweg zornig, aber Heinrich Bremer meinte, er wäre selbst nur etwas übernächtig –

Trennte sich dann von Eschels und ging zu dem Baumeister Kurz, der die Firma Hurtig hier vertrat. Er sagte ihm, daß ein Arbeiter der Kolonne Steinhof gestern schlapp gemacht hätte und von der Flut mitgenommen wäre – was Kurz nicht eben schwer nahm.

»Aber dieser Arbeiter hieß Eickemeyer, Martin Eickemeyer –«

»So der? Schade, war einer von den Stillen –«

»– und überdies der älteste Sohn von jenem Geheimrat Eickemeyer, der 1912 die ersten Pläne vom Damm entwarf.«

»Donnerwetter – wahrhaftig? Wissen Sie das für sicher, Bremer? Das wäre ja eine ganz faule Geschichte.«

»Ganz sicher. Ich kannte ihn persönlich. Habe auch einmal im Dunkeln und unter vier Augen mit ihm gesprochen. Habe ihm zugeredet, diese unsinnige Arbeit hier aufzugeben. Aber er war ja ein Dickkopf. War auch längst mündig. Was sollte man tun? Er wünschte nicht, daß unsere Bekanntschaft hier beklatscht würde – so möchte ich Sie auch bitten, meinen Namen gegen den Geheimrat nicht zu erwähnen, wenn Sie nun an ihn schreiben.«

»Muß ich das? Wissen Sie, Bremer, ich schätze solche Dinge durchaus nicht. Sie hätten mir auch wohl vorher einen Wink geben können, daß ich ihn in eine andere Kolonne steckte. Ausgerechnet Steinhof! Ja, Steinhof und Kniebel, die können zwischen sich schon einen Menschen zu Tode kniebeln, wenn er vielleicht nicht ganz fest mit dem Herzen ist. Ja, was meinen Sie? Muß ich wirklich schreiben?«

»Ich halte es für das Angemessene«, antwortete Bremer kühl. –

Er selbst schrieb an Elisabeth, schrieb bis spät in die Nacht hinein – wußte anderntags aber nicht, wie er den Brief absenden sollte. Im Büro gab's keine Diskretion, und von der Sicherheit des Postgeheimnisses im Dorfe hielt er auch nicht viel. So mußte er endlich mit einem Kieszuge nach Keitum fahren, um den Brief dort in den Kasten zu werfen.


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