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Ehrlich gestanden: es kam Heinrich Bremer sehr gut zupaß, daß er die überzähligen Sommerarbeiter nun im Winter auch nützlich beschäftigen und dadurch gleich bei der Arbeit halten konnte. Aber er fühlte sich doch nicht veranlaßt, Peter Boy Eschels groß dafür zu danken. Der Damm war sein Werk, sein Eigentum – mochte ja auch sein, daß der gute Dammbaupastor kaum gewußt hatte, welch vortrefflichen Tip er ihm da gegeben hatte. Heinrich Bremer neigte jetzt dazu, sich etwas einzukapseln, sich in sich selbst zurückzuziehen, wie ein Einsiedlerkrebs in sein Schneckenhaus, und die Scheren vorzustrecken, wenn ein Besuch sich meldete – »let mi töfreer!« –
An einem Morgen gegen das Frühjahr hin, als ein nasser Schnee vom Himmel kam, las Heinrich Bremer zufällig in einer Zeitung, die Magge Sörensen als Frühstückspapier benutzt hatte, daß Elisabeth Eickemeyer am gleichen Abend in Hamburg tanzen würde. Ohne sich weiter mit Überlegungen aufzuhalten, ließ er sich mit Baurat Pflüger in Husum verbinden.
»Kann ich heute wohl einen Urlaubstag nehmen? Familienangelegenheit – ja, ich muß heute abend notwendig in Hamburg sein. Wer mich vertritt? Hannes-Hannes natürlich – ich meine den Techniker Scholz. Morgen? Bewahre, ich komme nachts wieder zurück, morgen früh mit dem ersten Arbeiterzug über die Spundwand. Ja, jetzt muß ich sofort aufbrechen, sonst erreiche ich den Niebüller Zug nicht mehr. Bewilligt? Besten Dank – oh, sicherlich bin ich morgen früh mit dem Ersten wieder hier –«
Und machte, daß er davonkam. Zum Umkleiden blieb ihm keine Zeit. Wie er ging und stand, sprang er auf die nächste Maschine, die gerade auf die Spundwand hinauslief. Ging ein paar hundert Meter weit zu Fuß über die Gleise. Fand glücklich eine andere Lokomotive, die eben einen leeren Lorenzug zum Festland zurückschob und kam in Klanxbüll an, gerade ehe der Niebüller Zug abfahren wollte. Erst aber als er hinter Niebüll schon im Hamburger Zuge saß, kam ihm das Bedenken, ob er auf Sörensens fettigem Butterbrotpapier auch recht gelesen. Er kaufte sich in Heide alle Hamburger Zeitungen, die nur irgend ausgeboten wurden, aber die Vorsicht war überflüssig gewesen: als er die erste aufschlug, fand er gleich den Namen, den er suchte. Nur freilich war der Tanzabend so früh angesetzt, daß er vom Bahnhof aus sofort ein Auto würde nehmen müssen –
Inzwischen war der Schnee nicht trockener geworden. Es begann zu nieseln – zu nebeln – die Frage eines jungen Schotten fiel ihm ein, mit dem er in seinen Studentenjahren viel zusammen gewesen war:
»Ach, nennt man das hier auch ›Nebelwolken‹, wenn es so scheußlich gießt?«
Als der Zug in Hamburg einlief, goß es aufs scheußlichste. Als Heinrich Bremer aus der Bahnhofshalle hinaustrat, fuhr ihm eben das letzte Auto vor der Nase weg.
»Wenn Sie nur einen Augenblick warten möchten, es kommen sogleich andere«, sagte der Verkehrsbeamte, der Bremers entrüsteten Blick bemerkte. Aber obgleich Bremer sich selbst sagte, daß es eine Torheit wäre, ließ er sich doch von seiner Ungeduld verführen, zu Fuß loszulaufen. Er glaubte Hamburg gut genug zu kennen, verlief sich dann aber doch – alle Elektrischen waren überfüllt, jedes Auto besetzt – als er endlich das Hotel erreichte, wurde er nicht mehr in den Saal eingelassen.
»Es ist nur der kleine Saal, und sind nicht so sehr viel Menschen«, sagte der Saaldiener wichtig. »Es sind eben so auserwählte Kunstkenner, und auch nur kleine Musik, aber lauter Solisten eigentlich. Und die Preise sind ja auch danach, mein Herr, mir ist ausdrücklich gesagt, daß ich nicht eine Maus mehr hineinlassen dürfte –«
»So melden Sie mich der Dame hernach«, sagte Heinrich Bremer enttäuscht, begab sich derweil ins Restaurant und ließ sich etwas zu essen geben. Aber die Enttäuschung verschlug ihm den Appetit, und er ging in die große Halle zurück, setzte sich in einen der tiefen Klubsessel und beobachtete das Kommen und Gehen, bis ihm die Augen schwer wurden.
»Ja, wo ist denn der Herr?« hörte er plötzlich Elisabeths Stimme hell und scharf und etwas ungeduldig, merkte, daß er eingedusselt war, sah auf die große Uhr und erschrak: »In einer halben Stunde muß ich ja schon wieder auf der Bahn sein – welch ein Unfug!« Sah dann aber auch Elisabeth Eickemeyer selbst, und sah, daß alle Menschen in der großen Halle auf sie schauten, wie auf etwas Besonderes. Sie wandte ihm den Rücken zu, und ein langes, schwarz-weißes Tuch schleppte hinter ihr drein – der Portier machte eine Bewegung zu ihm hin. Da erst stand Heinrich Bremer auf und gab seine Geneigtheit kund, mit ihr zu ihrem Zimmer hinaufzufahren.
Droben in ihrem Zimmer blieb sie stehen und sah ihn schweigend an: was willst du?
»Ich wollte dich tanzen sehen und kam zu spät.«
Ihr Mund verzog sich und ihre Lippen zitterten leicht, als ob sie lachen oder weinen wollte. Sie tat aber keins von beidem, sondern ließ sich wie müde in einen niedrigen Sessel gleiten, und da warf er sich neben ihr nieder, legte den Arm um ihren Nacken und seinen Kopf an ihre Schulter.
»Ich wollte dich tanzen sehen – ach, nein, ich las eben nur deinen Namen –«
»Bleibe!« sagte sie leise.
»Ich kann nicht. Habe nur fünf Minuten noch. Wenn ich den Nachtzug nach Flensburg nicht nehme, dann ein Auto hinüber nach Klanxbüll, komme ich nicht zum Arbeitsbeginn –«
»Würdest du deine Stellung darum verlieren?«
»Ach, nicht deshalb – aber meine Arbeit! Denke, nur die Spundwand läuft durchs Watt, ein schmaler Bretterzaun vor der Nordsee, die täglich zweimal hereinkommt. Ein einziger Sturm – ich mag das Wort nicht mehr denken seit dem August vor zwei Jahren –«
»Ich weiß. Mein Vater schickte mir alles, was auf den Damm Bezug hat. Er freut sich meiner Anteilnahme an seinem Werk.«
»Es ist mein Werk!« entgegnete Heinrich Bremer eifersüchtig. »Dein Vater – wie stehst du mit ihm?«
»Sonderbare Frage. Du kennst ihn doch. Kennst doch meine beiden Eltern. Es sind die sprichwörtlich besten Eltern von der Welt.«
»Ach, du verstehst wohl, wie ich's meine. Es muß für Eltern heute nicht leicht sein, ihre Kinder eigne Wege gehen zu lassen.«
»Ist auch für die Kinder nicht leicht, sie zu gehen«, sagte Elisabeth langsam – »Martin –«
»Du weißt, daß er auf Sylt ist?«
Sie zuckte zusammen, so daß er es durch alle Nerven spürte.
»Nein«, sagte sie atemlos. »Nein, das wußte ich nicht. Dann komme ich hinüber.«
Er hielt sie fest, sah aber auf die Uhr an seinem Arm – nur drei Minuten noch –
»Heute? Jetzt gleich? Unmöglich, es ist keine Verbindung.«
»Dann morgen, oder sobald es möglich ist. Du wirst mir schreiben?« Und da sie spürte, daß er sich von ihr löste, klagte sie leise: »Weshalb kamst du nicht früher schon? Damals?«
Er hob den Kopf.
»Ja, jetzt könnte ich dir davon sprechen –«
»Sage mir nur noch das eine: war es eine andere?« und errötete tief über der eigenen Frage.
»Eine andere?« wiederholte er verständnislos. »Ach – Frau, meinst du? Nein, Elisabeth, es war keine andere Frau und ist auch heute nicht. Heute ist's in Wahrheit nur meine Arbeit, aber sie frißt mich mit Haut und Haaren, diese Geliebte –«
Sprang auf seine Füße, fand auch die Mütze, auf die er dabei trat – er wagte nicht, ihre Lippen zu küssen, sonst hätte er nicht mehr vermocht, sich von ihr zu lösen –
Lief die Treppen hinunter und mit langen Schritten durch die Halle, so daß die Gäste auseinanderstoben, der Portier ihm bedenklich nachschaute, und der Liftboy, der seine Welt- und Menschenkenntnis aus dem Kino bezog, angstvoll meinte:
»Finden wir die hernach da oben ermordet, dann ist der's gewesen, da schwör ich jeden Eid! Ist das überhaupt ein Herr, der recht hierher gehört mit der alten Jacke und den Stiefeln?«
Aber ein Herr wär's doch gewesen, wies ihn der Portier zurecht, und die schöne Tänzerin war denn ja auch nicht ermordet – wußte nur anderntags nicht recht, ob sie nach Berlin fahren wollte oder etwa nach Niebüll – ging endlich aufs Reisebüro.
»Wenn ich da die Wahl hätte –!« meinte der Liftboy.