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Heinrich Bremer, der aus dem südlichen Mitteldeutschland stammte und seit dem Kriege zumeist in der Frankfurter Gegend gearbeitet hatte, fand es zunächst nicht leicht, sich mit seinen hiesigen Arbeitern zu verständigen. Nun der Frühling endlich auch nach Norddeutschland heraufkam, wurde die Dammarbeit ernstlich in Angriff genommen. Ganze Arbeiterhorden wurden ihm aus Flensburg und Kiel zugeschickt, die vielfach noch den rohen Ton der Revolutionszeit mitbrachten. Die nahm Bremer scharf an die Zügel. Wer sich als unbotmäßig erwies, wurde kurzerhand entlassen. Dafür fand sich schließlich immer noch ein Grund, den selbst die Arbeiterräte gelten lassen mußten, denn jeder dieser Männer hatte genug auf dem Kerbholz; man mußte nur vorher schon Augen und Ohren offenhalten.
Mehr als einmal, wenn Bremer so durch die Reihen der arbeitenden Leute ging, klang das Wort ihm im Ohre nach: »Schlagt den Kerl doch einfach tot!« Dann verhärtete sich sein Herz zu einer kalten Gerechtigkeit, und er ließ die Leute seine Herrenfaust spüren. Trotz aller Rechte, die sich die Arbeiterschaft durch die Revolution erkämpft hatte, hielt er sie doch wie rechtlos. Er war verbittert und sah das Leben immer noch verzerrt. Daneben aber konnte ein menschliches Zutrauen ihm auch wieder menschlich wohltun. Dann trat für kurze Zeit ein Mann aus der Schar heraus und wurde ihm Genosse; die andern empfand er als sich feind.
Die Sylter aber waren ihm weder das eine noch das andere in dieser ersten Zeit. Er sah, daß sie tüchtige Werkzeuge waren und fand menschlich doch nicht die geringste Berührung mit ihnen. Als die Frühjahrsbestellung der Äcker begann, blieben sie einfach weg.
»Wir müssen doch unser Land passen«, sagten sie, verwundert, daß er ihnen Vorhaltungen machte. Und als er sie deshalb ganz entlassen wollte, kam Pastor Eschels selbst in dem kleinen Flachboot, das er mit seiner Tochter zusammen stakte, und bat in beweglichen Worten, die Kündigung zurückzunehmen.
»Die Sylter sind Bauern, Herr Bremer, sie können ihr Land nicht unbestellt lassen. Was nützt aller Landgewinn, den der Damm späterhin bringen kann, wenn der bäuerliche Instinkt nicht dem Volke erhalten bleibt?«
»Und was nützt mir ein Arbeiter, wenn er in der Zeit der Not mir davonläuft?«
»Die Leute werden sich abwechseln, daß Ihnen nicht alle zugleich fehlen.«
»Bei nächster Gelegenheit laufen sie mir wieder aus der Arbeit, denn ich kann sie nicht in den Griff bekommen. Sie sind Herren auf ihrem kleinen Besitz, keine Knechte, die ums tägliche Brot zu fronen gezwungen sind.«
Pastor Eschels, da er ihn unschlüssig sah, lachte:
»Keine Herren über uns, keine Hörigen unter uns – das ist die Sylter goldene Mitte. Aber tüchtige Arbeiter sind die Morsumer doch, nicht wahr? Und ich darf sie Ihnen wieder schicken?«
Und Heinrich Bremer sagte nicht nein. Er fühlte doch, daß er die Sylter vermißte – auch aus den andern Orten hatten sich etliche nun den Morsumern angeschlossen. Auf dem festen Lande freilich waren ihnen die großstädtischen Arbeiter oft überlegen; sie waren gewandter, geistig beweglicher, wußten mehr von sich und der neuen Nachkriegswelt als die Insulaner. Aber bei der Arbeit im Watt konnte Bremer die Sylter kaum mehr entbehren. Sie standen in ihren prächtigen Seestiefeln so geruhig in den ziehenden Wassern, bauten ihre Buschdämme, als wenn sie auf festem Boden arbeiteten. Und wenn die Großstädter abrückten, weil ihnen die steigende Flut unbehaglich wurde, schauten die Sylter nach dem Himmel und hielten die Nase in den Wind:
»Vor einer guten Stunde kommt es nicht zu hoch« – schafften noch einen Meter Faschinenzaun und noch einen halben.
Ließen sich die aber auch gut bezahlen! So hinterwälderisch die Morsumer in manchen Dingen auch sein mochten – was die Geldangelegenheiten dieser Nachkriegswelt anbetraf: Tarife, Lohnerhöhungen, Prämien für gefährliche Arbeiten, Extralöhne für Überstunden, und endlich die Kurse der dänischen Krone und des amerikanischen Dollars, in diesen Dingen wußten sie besser Bescheid als die gerissensten Berliner. Gingen eher auch als diese zur Umrechnung der deutschen Papiermark auf eine fiktive Goldmark über, rechneten gewohnheitsmäßig bäuerlich nicht mit Zahlen, sondern mit realen Werten, sprachen unter sich von Indexziffern und Roggenpreisen. Waren in diesen Dingen auch Bremer selbst überlegen, auf den wohl noch der böse Witz Anwendung finden mochte, daß er vor dem Kriege das Wort »Valuta« für einen hübschen Mädchennamen gehalten hätte.
In bezug auf die äußere Lebensform unterschied sich der Baumeister hier nicht viel von seinen Arbeitern. Auch er hauste in hölzerner Baracke und schlief auf Stroh, nicht einmal ein Kopfkissen konnte er für sich aus staatlichen Mitteln beschaffen – eine diesbezügliche Eingabe wurde mit sanftem Hinweis auf die hohen Preise beantwortet; für die gleiche Summe hätte man vor dem Kriege die ganze Baracke kaufen können.
Frühling, Sommer und Herbst gingen vorüber. Dann kam Heinrich Bremers erster Nordseewinter! Unter dem »gleichmäßigen ozeanischen Klima unserer Nordseeküste«, von dem er noch in der Schule gelernt, hatte er sich seinerzeit etwas erheblich anderes vorgestellt als dies Gebräu aus Nebel und Regen, schweren Wolken, die tief zur Erde sanken, und dunklen Wasserdämpfen, die aus überschwemmten Gebieten zum Himmel aufstiegen. Da blieb wirklich oft undeutlich, was Land, was Luft, was Meer war, alle Urelemente schienen hier durcheinandergerührt – nur die Sylter fanden sich darin noch zurecht, und die vom gegenüberliegenden festen Lande, der Wiedingharde.
»Die Wiedingharder sind den Syltern ähnlich in ihrer unbewegten Verschlossenheit«, dachte Heinrich Bremer manchmal, wenn er – was nicht eben oft geschah – über seine Arbeiter nachdachte. »Weshalb denn sind mir die Sylter unsympathischer als sie?«
Und fand erst viel, sehr viel später die Lösung: weil die Sylter nicht an sein Werk glaubten. Nicht glauben wollten, daß der Damm endlich fertig und fest stehen würde.