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Nun kamen die Jungen heim. Die Unterzeichnung des Friedensvertrages zwischen Deutschland und den Alliierten aber verzögerte sich. Inzwischen schrieb die frischgebackene deutsche Republik Erneuerungswahlen aus für alle Körperschaften im Reich. Da in Morsum die Gemeindevertretung neu gewählt wurde, fielen wenige Stimmen nur auf Holm-Peters, den bisherigen Gemeindevorsteher, eine überwiegende Mehrheit aber auf Volquart Claasen, einen der größten Bauern, der Lene, des Peter Boy Eschels ältere Schwester, zur Frau hatte. Pastor Eschels begrüßte die Wahl, als wäre Deutschland damit gerettet.
»Immer war Volquart der Führer der Jungen«, sagte er zu seiner Tochter, »die Jugend siegt! So wird, falls der Damm doch noch einmal gebaut werden sollte, für mich ein leichteres Arbeiten hier sein.«
»Du wirst immer mehr zum Morsumer«, antwortete Gondelina bedrückt. »Niemand glaubt mehr daran, daß der Dammbau wieder aufgenommen werden könnte. So solltest du lieber versuchen, dich wieder um einen Lehrstuhl zu bemühen, oder aber um eine Pfarre auf dem Festland, in Süddeutschland, in einer größeren Stadt womöglich; wir verbauern hier –«
»Ich muß den Friedensvertrag abwarten«, antwortete ihr Vater ungeduldig. »Es gehen doch Gerüchte um, daß in Nordschleswig abgestimmt werden soll über seinen Verbleib bei Deutschland oder seine Rückkehr zu Dänemark. Du und ich, wir ergäben doch immerhin zwei Stimmen mehr zu Deutschlands Gunsten.« –
Im Sommer wurde der Friedensvertrag unterzeichnet. Die darin vorgesehene Abstimmung in Nordschleswig wurde auf das nächste Frühjahr festgesetzt.
»Willst du deshalb noch einen Inselwinter hier verleben?« fragte Gondelina.
»Ich will!« entgegnete er entschlossen. »Wenn das Geld nicht so schlecht wäre, würde ich dir raten, inzwischen für ein paar Monate zu verreisen –«
Aber das Geld war gar zu schlecht. Nach dem Vertrage von Versailles war die Kurseinbuße binnen sechs Monaten so stark, wie sie in der Zeit vom 4. August 1914 bis zum 1. Juni 1919 nicht gewesen. Die Morsumer gaben den Plan einer Kirchenheizung endgültig auf, und nicht wenige unter den Alten waren geneigt, auch Deutschland endgültig aufzugeben und die Geschichte um fünfundfünfzig Jahre zurückzudrehen, um sich Dänemark wieder anzuschließen. Meinert Claasen, Volquarts jüngerer Bruder, fand einen Mittelweg. Er veranlaßte eine Kundgebung: »Mit Deutschland wollen wir verbunden bleiben, aber nach eigener Verfassung uns wieder selbst regieren wie in alter Zeit!« Pastor Eschels suchte vergebens ihm klarzumachen, daß er Sylt nicht mehr aus Deutschlands Verfassung zu lösen vermöchte.
In einem alten Volkskalender, den Eschels noch von Bleik Bunje geerbt hatte, fand er den chinesischen Satz: »Wer in der heutigen Zeit lebt, und doch zu den Wegen des Altertums zurückkehren möchte, solche Menschen wird das Verderben treffen.«
»Ich will meine Morsumer in die neue Zeit hineinschleppen, wenn sie nicht gehen wollen«, sagte er zu sich selbst, »ich will sie vor dem Verderben bewahren!« –
Im Winter kamen mancherlei politische Redner nach Sylt. Die Morsumer hörten diesen Leuten zu, ohne daß sich in den harten Bauerngesichtern auch nur irgendeine Spur von Beeinflussung erkennen ließ. Einmal aber kam auch der Landrat mit herüber und gab im Namen der Regierung eine Erklärung ab: falls Hoyerschleuse, der deutsche Zufahrtshafen für Sylt, dänisch werden würde, sollte der Dammbau von neuem aufgenommen werden, um Sylt eine direkte Verbindung mit Deutschland durch den Wattenweg zu schaffen.
Pastor Eschels ging mit seiner Tochter heim. Leuchtete ihr sorglich mit großer Stallaterne durch die schwere Morsumer Finsternis. Sie schwieg, und auch er sprach nicht, wußte er doch nur zu gut, was sie bei sich dachte, und wollte ihr also lieber das erste Wort gönnen. Endlich, als sie schon in der Tür des Pfarrhauses standen, sagte sie mit einem herzhaften Seufzer:
»Nun gut, so bleibe auch ich!« Und er faßte ihre Hand mit schnellem Griff. –
Hoyerschleuse wurde dänisch, Hoyer und Tondern ebenfalls. Danach aber war durch Monate nichts wieder vom Dammbau zu hören.
»Nun sind wir wieder für Deutschland eingefangen, nun braucht Deutschland sich ja auch weiter nicht mehr um den Damm zu quälen«, meinte Volquart Claasen spöttisch.
»Ist es dir leid?« fragte sein Schwager.
»Daß wir bei Deutschland bleiben? Bewahre mich, nein, das ist mir nicht leid! Ist das einzig Vernünftige. Dänemark hat auch ohne uns genug Bauern. Und auch ohne Westerland genug Badeorte an der See. Aber auf den Damm kann ich auch verzichten. ›Was die Fremden uns Gutes bringen wollen, daran gehen wir noch einmal zugrunde‹, pflegte mein Vater zu sagen.«
Mit diesem Wort im Ohr ging Peter Eschels heim, und als er auf der Hälfte des Wegs erst war, verkroch sich die Sonne. Dorf, Äcker, Weiden und Heide – alles wurde grau in grau verwischt durch dichten Seenebel, der in Schleiern übers Kliff hinaufstieg. Darin schienen die Hünengräber sich zu dehnen und zu recken – seit Tausenden von Jahren wohl lag die Heide da unberührt. Eschels schauerte fröstelnd zusammen – hatte es einen Sinn, hier den Kampf für das unerwünschte Neue aufzunehmen?
»Don Quichotte von der Mancha!« brummte er und schüttelte sich wie ein nasser Hund. »Ich fürchte, dies war der dümmste Streich meines Lebens. Nun läßt's mich hier nimmer los –«
Kam heim und fragte seine Tochter:
»Nun, wie gefällt dir meine Heimat im siebenten Jahre deines hiesigen Lebens?«
»Heute gut«, antwortete Gondelina. »Ich brach in der Küche vorm Gossenstein durch die Dielen; nun habe ich doch wenigstens ein Stück Holz, uns eine warme Suppe zu kochen.«
Denn die Hausfeuerung war immer noch von Reichs wegen rationiert, und ehe die Morsumer ihre Ration erhielten, vergingen immer noch vierzehn Tage mehr als auf den Dörfern des Festlandes. Es war aber ein überaus kalter Winter gewesen und Sylt wochenlang von jeder Festlandverbindung abgeschnitten, so daß, was Gondelina an Hausgerät und ihr Vater an alten Büchern nur irgend entbehren konnte, schon seit langem verheizt war.