Christoph Martin Wieland
Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit
Christoph Martin Wieland

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Zweytes Palmblatt.

Ich besorge sehr, meine Brüder, diese Gegenvorstellungen, welche ich meinem Gewissen oder meiner Ehrlichkeit oder wie ihr es nennen wollt, machte, sind nicht gründlich genug, daß sie mich so vollkommen hätten beruhigen sollen, als sie thaten, nachdem mich die Gewohnheit gegen die Ungereimtheit gewisser Pflichten meines Dienstes, und gegen die Vorwürfe des besagten – wie heißt es? unempfindlich gemacht haben.

Ich weiß nicht, ob ich mich irre, – aber seitdem ich die schwarze Pforte der Geisterwelt für mich aufgethan sehe, kommen mir viele Dinge anders vor als ehmahls. Zum Beyspiel, die Unterscheidung zwischen den rohen Seelen des Pöbels und den feinen und ausgebildeten, deren wir uns berühmen, scheint mir bey weitem nicht mehr so wichtig zu seyn; und ich kann mich nicht erwehren zu glauben, daß der armseligste Tagelöhner in Memfis aus den Händen der Natur eine Seele von der nehmlichen Art empfange wie der König, oder der verehrliche Vorsteher unsers heiligen Ordens, der Oberpriester des Osiris selbst.

Warum sollte es unmöglich seyn, der Seele dieses Tagelöhners begreiflich zu machen, daß Apis ein Stier, der Ibis eine Art von Störchen, und die Meerzwiebel eine – Meerzwiebel sey? – daß der Stier zwar für ein symbolisches Bild der Stärke gebraucht werden könne; daß der Ibis uns nützlich sey, weil er unsre Schlangen ißt, und daß ihm unsre Ärzte vielleicht das Geheimniß des Klystiers abgelernt haben; daß die Meerzwiebel ein vortreffliches Mittel sey verdickte Säfte zu zertheilen: aber daß schlechterdings kein Grund vorhanden sey, warum wir irgend einem Stier oder einem Ibis oder einer Meerzwiebel göttliche Ehre erweisen sollten?

Ich gestehe, daß es mir schwer fällt, von einem Geschöpfe, das einem Menschen gleich sieht, so schlecht zu denken, als ich thun müßte, wenn ich es für unfähig halten sollte, so klare Wahrheiten begreifen zu lernen; und daß ich meines Orts viel weniger begreifen kann, warum es dem Dümmsten unter allen Dummköpfen dieser Unterwelt nicht unendliche Mahl begreiflicher seyn sollte, daß ein Stier ein Stier, als daß er ein Gott sey.

Allerdings ist die Macht des Aberglaubens, wenn er einmahl von dem Gehirne des Menschen Besitz genommen hat, entsetzlich. Aber ich sage auch nicht, daß man das Volk auf Einmahl klug machen solle. Wenn blinde Seelen sehend gemacht werden sollen, muß man ohne Zweifel die nehmliche Vorsicht gebrauchen wie bey Leuten, denen man den Staar gestochen hat. Genug, daß sich in zwanzig bis dreyßig Jahren eine erstaunliche Umkehrung in den Köpfen des Volkes bewirken ließe, wenn wir uns entschließen könnten ein so edelmüthiges Werk zu unternehmen, und darin nach einem gemeinschaftlichen regelmäßigen Plane zu verfahren. Ich denke nicht daß wir nöthig haben, uns die Besorgniß, »die großen Grundwahrheiten unsrer Religion möchten dadurch untergraben werden«, davon abschrecken zu lassen. Wahrheit und Wahrheit sind zu gleicharthige Dinge, als daß sie sich nicht mit einander vertragen sollten.

Aber ich weiß einen andern Grund, meine werthen Brüder, warum mein frommer Wunsch schwerlich jemahls aufhören wird ein Wunsch zu bleiben. Ihr werdet, das bin ich gewiß, alle, einer nach dem andern, so denken wie ich; aber ach! wie Abulfauaris, werdet ihr erst alsdann so denken, wenn ihr keine Zeit mehr habt Gebrauch davon zu machen.

Ich will euch diesen Grund mit eben der Offenherzigkeit entdecken, mit welcher ich meinen Busen aufschließen werde, um euch Geheimnisse darin sehen zu lassen, die vor jedem andern als einem allsehenden Auge verborgen geblieben sind.

Hermes, der große Stifter unsers Ordens und der Gesetzgeber unsers Volkes, hinterließ uns eine sehr einfache Religion; wie ein Volk sie nöthig hatte, welches eben erst durch ihn gesammelt worden war, und die erste Bildung zu einem förmlichen Staat bekommen hatte; und so gut, als ein solches Volk sie zu ertragen fähig war.

Seine angelegenste Sorge scheint gewesen zu seyn, die künftigen Priester, als die Aufbewahrer seiner Gesetze, auf den richtigen Standpunkt zu stellen, aus welchem sie das erhabene Amt, welches er ihnen in seiner Republik anvertraute, zu übersehen hätten. Er verfaßte seine geheime Lehre theils in Hieroglyfen, theils in dem geheiligten Alfabet, wovon er der Erfinder war, und wozu wir allein den Schlüssel haben. Er lehrte uns darin: Daß seine Religion aus einem politischen Gesichtspunkte betrachtet werden müsse, und daß seine Absicht dabey keine andere gewesen, als seine neu gestiftete Republik fester zusammen zu ziehen, und, durch den Glauben einer herrlichen Belohnung der Tugend und einer strengen Bestrafung des Lasters nach dem Tode der Unzulänglichkeit seiner Gesetze zu Hülfe zu kommen. Er fügte hinzu: Alles was er an den Ägyptern hätte thun können, sey nur ein roher Entwurf, der von uns, seinen Nachfolgern, ausgearbeitet und poliert werden müsse; welches nicht anders als nach und nach geschehen könne. Überdieß seyen alle Gesetze ihrer Natur nach der Veränderung unterworfen, und eine jede Verfassung habe von Zeit zu Zeit nöthig, ausgebessert und mit neuen Federn versehen zu werden. Er überlasse uns deßwegen –

Doch wozu sage ich euch diese Dinge, die euch so gut bekannt sind als mir? – Vergebet, meine Brüder, einem alten Manne, der seinen Vorstellungen nicht mehr so gebieten kann wie vormahls – Ich komme zur Sache.

Die älteste Religion der Ägypter war also, wie gesagt, sehr einfach.

Die Aufnahme der Heroen unsres Volkes unter die Gottheiten legte den ersten Grund zu ihrer Erweiterung, und die Hieroglyfen gaben in der Folge Gelegenheit, die Zahl der heiligen Dinge beynahe ins unendliche zu vermehren.

Niemahls ist vielleicht ein abergläubischeres Volk, und ein Land, dessen ganze Beschaffenheit seine Bewohner mehr zu dieser Gemüthskrankheit aufgelegt machte, gewesen als das unsrige. Ägypten ist in der That das Land der Wunder; und selbst ein Fremder, der zu uns kommt, fühlt beym Anblick so vieler Seltenheiten der Natur und der Kunst, so vieler geheimnißvoller Denkmähler eines die Geburt alles andern Völker übersteigenden Altertums, sich geneigt zu glauben, daß unser Land ehemahls eine Wohnung der Götter gewesen sey.

Die Einwohner eines solchen Landes müssen natürlicher Weise mehr Anlage als andere haben, aus dem Dienste der Götter die Hauptangelegenheit ihres Lebens zu machen; zumahl wenn sie überhaupt zur Melankolie geneigt sind, und ihre ganze Verfassung, anstatt diesen Naturfehler zu verbessern, ihm vielmehr alle mögliche Nahrung gibt. Denn wie sollte ein Volk nicht schwermüthig seyn, welchem wir aus einem spitzfindigen Begriff von religiöser Politik alle Musik untersagt haben? – welches sogar bey seinen Gastmählern und geselligen Ergetzungen die Gegenwart einer Mumie vonnöthen hat, um sich zur Freude aufzumuntern? – und bey welchem die Könige selbst den größten Theil ihres Lebens damit zubringen, sich ihr Grabmahl zu bauen? Ein solches Volk ist dazu gemacht, in einer Religion, die zu der Düsterkeit seiner Gemüthsart paßt, zu gleicher Zeit eine Nahrung seines Trübsinns und ein Hülfsmittel gegen das Übermaß desselben zu suchen.

Der ausschweifendste Aberglaube scheint ein Bedürfniß der Ägypter zu seyn. Sie glauben nicht Götter genug haben zu können. Jede Stadt, jede Zeit, jede Handlung, jede Person hat ihre eigenen. Die alltäglichsten Erscheinungen in der Natur werden zu Zeichen und Vorbedeutungen, die natürlichsten Übel zu besondern Strafgerichten gemacht. Ein nichtsbedeutender Zufall, ein alberner Traum ist hinlänglich die Ruhe solcher Unglücklichen zu stören. Sie bringen die eine Hälfte ihres Lebens damit zu, die Götter zu fragen was sie thun sollen, und die andere, ihnen abzubitten was sie gethan haben.

Wie konnt' es anders seyn, als daß ein solches Volk mehr Priester haben mußte als irgend ein andres in der Welt? Es mußte ihrer schon eine unmäßige Anzahl haben, um nur jedem Gott seinen Priester zu geben. Der ursprüngliche priesterliche Stamm reichte nicht zu, die Ägyptische Frömmigkeit nach Nothdurft zu bedienen. Nach und nach entstanden daher eine Art von Mittelorden zwischen den Priestern und dem Volke; Leute, welche Anfangs keine andre Ansprüche machten, als den Priestern in ihren Verrichtungen und den Ägyptern in ihren häuslichen Andachten behülflich zu seyn. Sie wurden geduldet, weil man nicht vorher sah, was so leicht vorher zu sehen war. Aber unvermerkt wußten sie so viel Ansehen bey dem Volke zu erschleichen, daß es bereits unmöglich gewesen wäre, sie wieder los zu werden, als man zu merken anfing, wie nachtheilig ihr Daseyn, ihre Vermehrung und ihre Bemühungen der alten Verfassung wurden. Die Liebe zum Müßiggang, und die Bequemlichkeit sich auf andrer Unkosten füttern zu lassen, überschwemmte das Land mit diesen Mitteldingen, deren unermüdete Beschäftigung war, dem Pöbel, wie eine Spinne ihren Raub, mit ihrem Hirngespinste zu umwickeln, und ihn immer tiefer in einen Aberglauben zu versenken, ohne den sie sich hätten gefallen lassen müssen zu graben oder zu verhungern. Endlich fanden sie Mittel, sich auch zu den Großen den Zugang zu öffnen, oder, richtiger zu reden, eine Menge Zugänge; denn diesen Leuten gilt alles gleich, Thüren, Fenster, Spalten und Katzenlöcher, – wenn sie nur hinein kommen. Und da sie es einmahl so weit gebracht hatten, wie hoch stieg nun in kurzem ihr Übermuth! Wir selbst mußten uns vor ihren geheimen Ränken fürchten: noch glücklich genug, dem ehrwürdigen Karakter unsers Standes, und einem in dem geheiligten Dunkel der Götterzeiten sich verlierenden Alterthum ein wankendes Ansehen zu verdanken, dessen tägliche Abnahme wir heimlich beseufzen, ohne den Muth zu haben, das immer weiter fressende Übel in der Wurzel anzugreifen.

Und nun, meine Brüder, hab' ich euch den Grund gesagt, warum für den Verstand der armen Ägypter nichts zu hoffen ist. Die große Isis möge ihnen gnädig seyn! Aber in diesem Leben werden sie niemahls einsehen lernen, daß eine Meerzwiebel – eine Meerzwiebel ist.


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