Christoph Martin Wieland
Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit
Christoph Martin Wieland

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9.

Wie dem auch sey, nichts bedarf wohl weniger einer ernsthaften Widerlegung, als die Meinung von einer immer zunehmenden Entkräftung der Natur und stetem Abnehmen der Menschheit. Wo man jemahls Abnahme gesehen hat, da hat man sie bey einzelnen Völkern gesehen – und immer waren es sittliche Ursachen, immer waren es stufenweise Entnervung und Verderbniß durch Tyranney, übermäßige Ungleichheit, Hoffahrt, Üppigkeit und zügellose Sitten, was endlich im ganzen Staatskörper diese Kachexie hervorbrachte, die sich mit seinem Tod endigte. – Die Verderbniß und Schwäche ging nie ins unendliche; sie hatte immer ihr gewisses Maß, wie Gesundheit und Stärke auch.

Als es mit den Römern dahin gekommen war, daß der Nahme Römer, der vomahls Königen Ehrfurcht einflößte, bey den Gothen zu einem Schimpfnahmen wurde, den kein ehrlicher Kerl auf sich sitzen lassen konnte, – so war es auch aus mit ihnen. Diese ausschweifendsten, raubgierigsten, niederträchtigsten aller Menschen, die das Schändlichste zu thun und zu leiden fähig waren, wurden zuletzt auch die feigesten und wehrlosesten des Erdbodens. – Tiefer ist nie ein anderes Volk gesunken. Aber ihr Verderben war, gleich einer Seuche die nicht über einen gewissen Kreis hinaus kann, in die Grenzen ihrer Sitten eingeschlossen. Die Gothen, Vandalen, Longobarden, Franken, Sueven und so weiter, die ihre Herren wurden, blieben lange unangesteckt. Das große ungeheure Aas lag und moderte; aber was noch von gesunden Bestandtheilen übrig war, verlor sich in einer neuen Schöpfung. Neue Völker, neue Nahmen, neue Reiche, Verfassungen, Sitten und Sprachen, gingen aus den Trümmern der alten Welt hervor; und nun fing sich der Zirkel wieder an. Die Römer, denen Horaz so viel Böses weissagte, waren den Römern aus den Zeiten der Koriolanus, Kurius, Cincinnatus nicht unähnlicher, als wir heutigen Europäer unsern Stiftern und Altvordern sind. Unser Fortgang ins Schlechtere wird, trotz aller unsrer Palliative und Betäubungsmittel, immer sichtlicher. Eine Kraft, die mächtiger ist als wir, stößt uns immer nächer gegen jenen Punkt, der noch allen Völkern, die ihn berührt haben, verderblich gewesen ist. Werden wir vielleicht allein die Ausnahme machen?

Aber, was daraus auch werden mag, die menschliche Gattung überhaupt wird nichts dabey verlieren. Andre Völker, die jetzt noch in der Wildheit ihres kindischen Alters herum laufen, werden ihre Jugendstufe besteigen; unverdorbne, kraftvolle, gutartige Menschen – wenn anders unsre kosmopolitische Neigung, auf dem ganzen Erdenrunde herum zu schwärmen, und allen Völkern, von Grönland bis in die Südseeinseln, unsre Künste zu zeigen und unsre häßlichen Krankheiten mitzutheilen, bis dahin noch unangesteckte Menschen übrig läßt – werden die Patriarchen neuer Zeitalter werden; neue Helden, neue Argonauten, neue Orfeen und Ossiane, neue Ritter von der Tafelrunde – kurz, die ganze Geschichte, wie sie Virgil in seiner vierten Idylle in so schönen Versen weissagt, wird unter andern Formen und in andern Gegenden wieder kommen; und in dieser Ordnung der Natur wird sich die Menschheit vielleicht noch lange fortdrehen, und von Zeit zu Zeit neu geboren werden, wachsen, blühen, reifen, abnehmen, verderben, und dann wieder auferstehen, und wieder blühen, und wieder verderben; bis die Erde endlich ihre Zeit erfüllt hat, und eine Begebenheit, die alle übrigen verschlingt, die Scene schließen wird.

Ich will damit nicht sagen, daß diese kreisförmige Bewegung, womit sich die menschlichen Dinge umwälzen, ein wahrer Zirkel sey. Man hat vielmehr Ursache (wie mich däucht) zu glauben, daß es keiner sey. Kein Volk hat jemahls die Stufe wieder betreten, von der es einmahl herab gefallen, noch durch irgend ein Wunder der Kunst die natürlichen Kräfte wieder bekommen, die es einmahl verloren hatte. Die Perser sind nie wieder geworden was sie unter Cyrus waren; die Athener haben sich nie von ihrem Alcibiades, die Spartaner nie von ihrem Lysander erhohlen können. Es scheint, die Reihe des Steigens und Fallens müsse nach und nach an alle Völker kommen – die nicht, wie die Grönländer, Lappen, Kamtschadalen und ihres gleichen, mit eisernen Banden des Klima's gefesselt, ihr Daseyn im starren Nebel der Dumpfheit, wie halb erfrornen Menschen zukommt, hinträumen.


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