Christoph Martin Wieland
Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit
Christoph Martin Wieland

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6.

Bey einer Untersuchung des ursprünglichen Standes der Menschen scheint die Frage, »wo die ersten Menschen hergekommen,« nicht ganz überflüssig zu seyn. Rousseau hat (wir wissen nicht warum) nicht für gut befunden ihrer zu erwähnen. Man kann diese Unterlassung nicht damit rechtfertigen, daß dieser Umstand durch die Offenbarung ins Klare gesetzt sey. Denn aus diesem Grunde hätte sich Rousseau seine ganze Untersuchung sparen können; und überhaupt bewies man vor neun hundert Jahren aus diesem Grunde, »daß man über gar nichts filosofieren müsse, was der Mühe werth ist.« – Es ist das nehmliche weise Argument, kraft dessen der Saracenische Kalif Omar die Bibliotheken zu Alexandria, als diese Hauptstadt Ägyptens in seine Gewalt fiel, zum Feuer verurtheilt haben soll. – Wenn es erlaubt ist, über den ursprünglichen Stand des Menschen zu filosofieren, so muß sich diese Freyheit auch auf seine Ursprung selbst erstrecken; es ist für eines so viel Grund als für das andere.

Gesetzt nun, wir wollten – welches sehr weit von uns entfernt ist – die Gefälligkeit für die alten Priester zu Memfis so weit treiben, und alle die Überschwemmungen und Ausbrennungen des Erdbodens, von denen sie Nachrichten zu haben vorgaben,S. den Timäus des Plato. für wahr annehmen; ja, gesetzt wir wollten den Ursprung der Menschen so weit hinaus setzen als die fabelhaften Japaner: so würden wir doch nicht umhin können, endlich einige anzunehmen, welche die ersten gewesen wären. Eine Reihe, die keinen Anfang hat, mag, wenn man will, aus metafysischen Gründen eben so möglich seyn, als eine unendlich theilbare Materie; aber gewiß ist, daß sie, wie sehr viele andre transcendentale Dinge, den Fehler hat, daß sie unvorstellbar ist.

Diese ersten also, woher kamen sie?

Sind sie aus dem Monde herab gefallen?

Oder, wie Manko-Kapak, der Orfeus der Peruvianer, aus der Sonne herab gestiegen?

Oder, nach der gemeinen Meinung der Alten, aus dem Boden hervor gewachsen?Diod. Sicul. L. I. c. 10.

Oder sind sie, nach der sinnreichen Hypothese des Filosofen Anaximander, aus einer Art von Fischen hervor gekrochen?Plutarch. Symposiac. L. VIII. c. 8.

Oder hat vielleicht die Natur, wie Lukrez uns glauben machen will,Lucret. L. V. erst eine Menge Versuche machen müssen, bis es ihr endlich gelungen einen vollständigen Menschen herauszubringen?

Wahrhaftig, meine Herren Manko-Kapak, Demokritus, Anaximander, Lukrez, und wie ihr alle heißt, es möchte sich wohl nicht der Mühe verlohnen, zu untersuchen welcher von euch die lächerlichste Meinung habe; – aber was ihr alle zugeben müßt, ist: »daß nur derjenige den Nahmen des ersten Menschen verdienen kann, welcher der erste Mensch war; das ist, bey dem sich zuerst die vollständige Anlage alles dessen befunden, was den wesentlichen Unterschied unsrer Gattung von den übrigen Geschöpfen ausmacht.« Und wenn wir einmahl so weit einig sind, so werden wir, denke ich, kein Orakel entscheiden lassen müssen: »ob die Natur (wenn anders Verstand und Absicht in ihren Wirkungen ist) nicht wenigstens ein Paar solcher Menschen, welches die Gattung zu vermehren geschickt war, habe hervorbringen müssen?«

Nun läßt sich wohl nichts andres denken, als daß der erste Zustand dieser Protoplasten, wie vollkommen wir auch ihre Organisazion voraussetzen, wenig besser als eine Art von Kindheit seyn konnte; es wäre denn, daß wir ihnen angeborne Kenntnisse leihen wollten, wozu wenigstens die bloße Vernunft ihre Stimme nicht giebt. Alles bis auf ihren eigenen Leib war ihnen fremd und unbegreiflich. Verschlungen in die Unermeßlichkeit der Natur, hatten sie ohne Zweifel einige Zeit vonnöthen, um sich aus der ersten Betäubung so vieler auf sie zusammen drängender Eindrücke zu erhohlen. Allein Aufmerksamkeit und Übung mußten sie bald den Gebrauch ihres Körpers und der übrigen Dinge, welche zu Mitteln ihrer Erhaltung und ihres Vergnügens bestimmt schienen, kennen lehren; und es brauchte – wenn wir uns nicht zur Kurzweil Schwierigkeiten erschaffen wollen, welche in der Natur nirgends sind – weder Jahrtausende noch Jahrhunderte dazu.


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