Christoph Martin Wieland
Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit
Christoph Martin Wieland

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2.

»Ich konnte – fuhr der Priester Abulfauaris fort – nicht ohne inniges Erbarmen ansehen, daß ein von Natur so harmloses und gutartiges Volk in einem so ungesitteten und thierischen Zustande leben sollte, als diese Nacktheit war, welche ich, zumahl an wohl gebildeten jungen Personen, ohne großes Ärgerniß nicht ansehen konnte; – und ihr Zustand schien mir desto beklagenswerther, je weniger sie die Gefahr desselben zu kennen schienen. Denn, in der That, dasjenige, was mich alle Augenblicke nöthigte die Hand vor die Augen zu halten, schien bey ihnen nicht die mindeste Regung zu veranlassen, und man bemerkte in ihrem Betragen unter einander nichts, was sich von den strengsten Gesetzen der Ehrbarkeit im geringsten entfernt hätte.

»Zu allem Glück hatte ich etliche Stücke Leinewand von verschiedenen Farben bey mir. Ich stand keinen Augenblick an, sie dem Mitleiden aufzuopfern, welches mir diese armen verblendeten Geschöpfe einflößten; ich zerschnitt sie in kleine Röcke und Mäntelchen, und beschenkte die Weiber und Mädchen damit, so weit meine Leinewand reichte.

»Und hier hatte ich eine neue Gelegenheit, die vortreffliche Anlage dieser guten Leute zu Sittlichkeit und Tugend wahrzunehmen. Denn ich kann Ihrer Majestät nicht genug sagen, mit welcher Begierde die armen nackten Geschöpfe die Stückchen Leinewand annahmen, die ich ihnen gab, um ihre Blöße zu decken. Ich bedauerte nur, daß der Vorrath, den ich hatte, unzulänglich war, das tugendhafte Verlangen aller derjenigen zu befriedigen, welche auch so geputzt seyn wollten wie ihre Nachbarinnen. In kurzem breitete sich die Begierde, gekleidet zu seyn, unter dem ganzen Volke aus. Sie kamen von allen Enden, und boten mir um meine Leinewand mehr Goldstaub und Elefantenzähne an, als zehen Kamele hätten fortschleppen können; denn sie hatten von mir gehört, daß ein großer Werth in diesen Dingen läge: aber ich mußte sie abweisen, und sie schienen ganz untröstbar darüber zu seyn. Einige junge Mädchen weinten bitterlich, daß sie sich an ihrem Hochzeittage nicht in einem gelben Rock und himmelblauen Mäntelchen sollten sehen lassen können. Andere zankten sich mit einander darum. Die Mütter nahmen den Töchtern, und die ältern Schwestern den jüngern, mit Gewalt weg, was ich ihnen gegeben hatte; und ich konnte nur mit großer Mühe verhindern, daß es nicht zu Thätlichkeiten kam. Kurz, zu meinem unbeschreiblichen Vergnügen, bracht' ich es, Dank sey der großen Isis! in wenig Tagen so weit, daß es jedermann für eine Schande hielt, ungekleidet zu seyn; und Männer und Weiber hatten nun nichts dringenderes zu thun, als sich von gewissen breiten, wolligen Baumblättern eine Art von Schürzen zu machen, welche ihnen wenigstens dasjenige zu bedecken diente, was die Ehrbarkeit zu nennen verbeut.«


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