Christoph Martin Wieland
Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit
Christoph Martin Wieland

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17.

Man kann sich leicht vorstellen, daß mich dieser Traum, oder, wenn man lieber will, dieses Fragment von einem Traume, zu allerley Betrachtungen leitete, wovon einige vielleicht nicht unwürdiger sind, meinen Lesern mitgetheilt zu werden, als mein Traum selbst. Aber jetzt würde es unartig seyn, wenn ich eine kleine Neugier unbefriedigt lassen wollte, welche – die Büchse der Pandora bey meinen – Leserinnen zurück gelassen zu haben scheint; an deren Zufriedenheit mir viel zu viel gelegen ist, daß ich in Fällen dieser Art etwas angelegneres haben könnte, als ihren leisesten Wünschen, so fern ich sie zu errathen fähig bin, entgegen zu kommen.

Prometheus schreibt der Büchse der Pandora alles Unglück seiner Menschen zu: »Ohne sie, sagt er, würden sie noch immer so glücklich seyn, als sie es in ihrem ursprünglichen Zustande waren.« Was für eine Büchse konnte das wohl seyn, die so viel Unglück anzurichten vermochte?

Die Gelehrten – ein Volk, welches über nichts in der Welt einige werden kann – hegen auch über diesen Gegenstand sehr verschiedene Meinungen.

Einige glauben, daß unter der Geschichte der Pandora nichts anders verborgen liege, als eine allegorische Vorstellung der wichtigen Wahrheit: »daß der Vorwitz, oder die Begierde mehr zu wissen als uns gut ist, die erste Quelle aller menschlichen Übel gewesen sey«. – Die Büchse der Pandora, sagen sie, war weder mehr noch weniger als die Büchse des Papsts Johannes des drey und zwanzigsten, mit welcher Seine Heiligkeit die Schwestern zu Fontevrauld – daß sie das Privilegium, einander selbst Beichte hören zu dürfen, von ihm erzwingen wollten – zu ihrer Beschämung auf die Probe stellte.S. v. Hagedorns Fabeln und Erzählungen, zweytes Buch, im zweyten Theile seiner Werke, S. 256.

Andre suchen unter der Büchse der Pandora etwas noch verborgneres: es soll, ihrer Meinung nach, eben das dadurch bezeichnet werden, wovon der gelehrte Priester Porphyrius unter dem Nahmen »der Höhle der Nymfen«, so geheimnißvolle und hyperfysische Dinge schreibt.S. Porphyr. de antro Nympharum. Sie beziehen sich unter andern auf einen gewissen Vers des Horaz,Horat. Sat. L. I. Sat. 3. v. 107. um dadurch zu erläutern, warum die Büchse der Pandora zur Quelle alles Übels von den Alten gemacht worden sey. – Aber wir gestehen, daß uns sowohl diese Auslegung als der angezogne Vers unsers Lieblingsdichters zu allen Zeiten sehr mißfallen hat.

Noch andere wollen in dieser berüchtigten Büchse eine allegorische Vorstellung der Einführung des Eigenthumsrechts unter den Menschen finden, – wovon sie sich irrigerweise einbilden, daß sie der Zeitpunkt der sittlichen Verderbniß der menschlichen Gesellschaft gewesen sey; – mehr andrer Meinungen zu geschweigen, welche zum Theil noch gezwungener sind als diese.

Ohne uns bey einer wenig interessanten Prüfung alles dieser Hypothesen aufzuhalten, begnügen wir uns eine andre aus einem alten Buche ohne Titel, welches wir vor uns liegen haben, anzuführen, die uns deßwegen am besten gefällt, weil sie die natürlichste zu seyn scheint.

Der unbekannte Verfasser verwirft alle allegorische Erklärungen. Die Büchse der Pandora, sagt er, war weder mehr noch weniger als eine wirkliche Büchse, im eigentlichen Wortverstande, und zwar – eine Schminkbüchse; ein unglückliches Geschenk, wodurch die betrügerische Pandora unendlich mehr Böses gestiftet hat, als der Vorwitz, das Eigenthum, und die Grotte der Nymfen. Seitdem die verderbliche Mode, die Lilien und Rosen, welche Jugend und Schönheit aus den Händen der Natur empfangen, aus einer Schminkbüchse zu ziehen, seitdem diese unselige Mode unter Evens Töchtern überhand genommen hat: seitdem ist es um die kunstlose Unschuld und Aufrichtigkeit der menschlichen Natur geschehen. Nur zu bald wurde die Mode allgemein. Scheinen und Seyn, welche Eins seyn sollten, wurden zweyerley: und weil es leichter war, gut, liebenswürdig, weise, tugendhaft, zu scheinen, als es in der That zu seyn, und weil es, zumahl bey Kerzenlicht, die nehmliche Wirkung that; so bekümmerte sich niemand mehr darum, zu seyn, was er mit Hülfe dieser magischen Schminke scheinen konnte. Bald sah man kein natürliches Gesicht und keinen natürlichen Karakter mehr; alles war geschminkt und verfälscht; geschminkte Frömmigkeit, geschminkte Freundschaft, geschminkter Patriotismus, geschminkte Moral, geschminkte Staatskunst, geschminkte Beredsamkeit – Himmel! was wurde nicht geschminkt? – Die menschliche Gesellschaft glich nur einer großen Maskerade: und so wie die Nothwendigkeit die Kunst einander, dieser Mummerey ungeachtet, ausfündig zu machen, zur ersten unter allen Künsten erhob; so fand man sich durch die nehmliche Nothwendigkeit gezwungen, immer auf neue Künste zu denken, um diese Kunst zu vereiteln. Falschheit, Gleißnerey, betrügliche Höflichkeit, nichtsbedeutende Freundschaftsversicherungen, heuchlerische Unterwürfigkeit –

Hier recitiert unser Anonymus eine Litaney von Lastern und Untugenden die kein Ende nehmen will, und ergießt sodann die Bitterkeit seines Herzens in eine eben so lange Strafpredigt, womit wir, weil sie nichts weiter enthält als was unsre Leser in dem ersten besten Predigtbuche finden können, ihren guten Willen nicht zur Unzeit ermüden wollen.

Wer sollte denken, daß so viel Böses aus einer Schminkbüchse hervorgehen könnte?


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