Christoph Martin Wieland
Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit
Christoph Martin Wieland

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12.

Tlantlaquakapatli findet, eh' er weiter geht, vor allen Dingen nöthig, uns zu berichten, daß die schöne Kikequetzel, zu der Zeit, da Mexiko in den Wassern des oben besagten Kometenschwanzes unterging, ein Kind von elf bis zwölf Jahren gewesen sey. Mit diesem armen Kinde auf dem Rücken habe sich ihre Mutter auf einen hohen Berg geflüchtet, wo sie sich, bis das Gewässer wieder abgeflossen, in einer Höhle aufgehalten, und von den Eyern einiger Vögel, die in dem Felsen nisteten, gelebt hätten.

Da diese unglückliche Mutter, auf allen ihren Herumschweifungen in dem neuen Lande, welches aus dem Wasser wieder hervor gegangen war, keine Spur von Menschen gefunden hatte: so blieb ihr nichts anders übrig, als sich an den trostlosen Gedanken zu gewöhnen, daß sie und ihre kleine Tochter die einzigen Geretteten seyen.

Sie waren also eines dem andern die ganze Welt. Alle ihre Empfindungen koncentrierten sich in ihre gegenseitige Liebe. Das kleine Mädchen kannte kein größeres Vergnügen, als ihrer Mutter die Sorge für ihre Erhaltung so gut sie konnte zu erleichtern, ihr die schönsten Blumen zu bringen, die sie auf ihren kleinen Wanderungen fand, und die Thränen, die oft wider ihren Willen dem geheimen Kummer ihres Herzens Luft machten, von ihren Wangen und von ihrem Busen wegzuküssen.

Drey Sommer hatten sie auf diese Weise mit einander verlebt, als die gute Mutter einsmahls, das Unglück hatte, durch einen Fall von einem Kokosbaum, auf den sie sich, um die Früchte zu pflücken, gewagt hatte, das Leben einzubüßen.

Das trostlose Mädchen, nachdem sie etliche Tage lang alles versucht hatte die Todte wieder zu beleben, sah sich endlich gezwungen, ihre Hoffnung aufzugeben, und entfernte sich von dem traurigen Orte. Sie gerieth in unbekannte Gegenden, deren natürliche Fruchtbarkeit ihr allenthalben anbot, was sie zur Erhaltung ihres Daseyns nöthig hatte.

Ihre Mutter hatte ihr einige unvollkommene Begriffe von dem vorigen Zustand ihres Volkes gegeben. Sie hatte sich so viel daraus gemerkt, daß es eine Art von Menschen gegeben habe, welche nicht völlig so gewesen wie sie selbst. Sich deutlicher zu erklären hatte die Mutter für unnöthig gefunden, da das Mädchen noch ein Kind war, und bestimmtere Kenntnisse ihr ohnehin, in dem einsamen Zustande wozu sie verurtheilt schien, zu nichts dienen konnten. Indessen wußte das Mädchen schon genug, um ein sehr lebhaftes Verlangen in sich zu fühlen, einen von diesen Menschen zu finden; wenn es auch nur gewesen wäre, um zu wissen wie sie aussähen.

Sie war in der vollen Blüthe der Jugend, als Koxkox sie zuerst antraf; und außer der besagten Neugier, welche täglich wuchs, hatte ihr Herz, durch die Liebe zu ihrer Mutter, und die Gewohnheit, in den melankolischen Stunden der guten Frau ihr trauern und weinen zu helfen, eine stärkere Anlage zu zärtlichen Empfindungen bekommen, als die bloße Natur den meisten ihres Geschlechts zu geben pflegt.

Sie mußte also entsetzlich zärtlich seyn, sagt Tlantlaquakapatli.

Der Abkürzer dieser anekdotischen Geschichte hält es für seine Schuldigkeit, eh' er zu demjenigen fortschreitet, was auf das Erwachen der schönen und zärtlichen Kikequetzel folgte, seine auf Europäische Manier schönen und zärtlichen Leserinnen zu ersuchen, es – nicht einer vorsetzlichen Absicht, die Delikatesse ihrer Empfindungen zu beleidigen, oder der Würde ihres Geschlechts (dessen Verehrer er allezeit zu bleiben hofft) zu nahe zu treten, – sondern lediglich der Verbindlichkeit, den Pflichten eines getreuen Kopisten der Natur genug zu thun, beyzumessen, wenn er sich in dem folgenden Kapitel genöthiget sehen wird, das Betragen dieser jungen Mexikanerin unverschönert, so wie es war darzustellen; ein Betragen, von welchem er besorgen muß, daß es, ungeachtet aller seiner Bemühungen das Auffallende darin zu mildern, der besagten Delikatesse seiner schönen Gönnerinnen anstößig werden dürfte.

Er bitte sie indessen zu bedenken, ob es nicht gleichwohl zu einer Entschuldigung der jungen Mexikanerin diene, daß sie – in den Umständen, worin sie sich ohne ihr Verschulden befand, und bey dem gänzlichen Mangel aller Vortheile der Ausbildung und Politur welche nur Erziehung oder Welt geben können – nichts besser seyn konnte als ein Werk der rohen Natur; oder, mit andern Worten, daß es unbillig wäre den wilden Gesang einer ungelehrten Nachtigall zu verachten, weil eine ihrer Schwestern das Glück gehabt hat in einem Käficht erzogen zu werden und nach den Noten eines Hiller oder Naumann singen zu lernen.


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