Christoph Martin Wieland
Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit
Christoph Martin Wieland

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4.

Von ungefähr war ein Griechischer Filosof, welchen der König (wenn Se. Majestät lange Weile hatte) gern um sich leiden mochte, bey der Erzählung des Priesters gegenwärtig.

»Großer König, (sagte der Grieche) was der hoch erleuchtete Oberaufseher der Finanzen sagte, ist so gut ausgedacht, daß der große Apis selbst (mit aller Ehrfurcht, die ich ihm schuldig bin, gesprochen!) nichts klügeres hätte sagen können.

»Aber, ob der sehr verehrte Priester – welchem Anubis Weisheit und einen grauen Bart verleihen wolle! – diesem nackten Volke, wovon die Rede ist, nicht mit seiner bunten Leinewand ein Geschenk gemacht habe, dessen sie besser hätten entbehren mögen, das ist eine andre Frage.

»Vermuthlich muß die Witterung in ihrem Lande sehr gelinde seyn; denn sonst würden sie wohl schon lange Mittel gefunden haben sich zu decken, ohne auf den Zufall zu warten, der den ehrwürdigen Abulfauaris und seine Leinewand zu ihnen geführt hat. Und daß diese Leute, ihrer Nacktheit ungeachtet, keusch und unschuldig lebten, daran hätten wir vielleicht zweifeln mögen, eh' uns der sehr verehrliche Priester dessen selbst versichert hat: aber nun wär' es Ungebühr, ihm in einer Sache nicht zu glauben, wovon er ein Augenzeuge war.

»Demnach sehe ich nicht was für einen Dienst er diesen Leuten geleistet zu haben meint.

»Ihre Nacktheit hatte (wie er selbst gesteht) wenigstens für sie nichts unsittliches; und mir scheint nichts natürlicher als dieß. Unsre Griechischen Weiber lassen ohne Bedenken ihr Gesicht, ihre Hände und einen Theil ihrer Arme nackend sehen, ohne darum unweiser zu seyn als eure Ägypterinnen, welche gleich beschämt wären, ihr Gesicht oder ihren H** sehen zu lassen. – Diese Wilden, deren Blöße dem sehr verehrlichen Priester so anstößig war, sind vermuthlich am ganzen Leibe Gesicht. Die Gewohnheit hat gemacht, daß der Anblick einer vollständigen unbekleideten Figur ihnen nicht mehr zu schaffen macht, als dem Griechen der Anblick eines alltäglichen Gesichtes; und auf die Gewohnheit kommt in solchen Dingen alles an.

»Abulfauaris hat also (wenn es erlaubt ist nach Menschenweise von dieser Sache zu reden) diesen guten Leuten, deren Freund er übrigens ist, einen Dienst gethan, der ihnen zu nichts dient. – Aber, daß dieser Liebesdienst, gegen die Absicht Sr. Hochwürden, die unglücklichsten Folgen für die Unschuld ihrer Sitten haben könnte, scheint mir mehr als eine bloße Besorgniß zu seyn. Ich will es der Zeit überlassen, mich hierüber zu rechtfertigen. Es geziemt mir nicht, hier vor Ihrer Majestät und vor einem Priester der Isis den Weissager zu machen. Aber, um nur von dem, was schon geschehen ist, zu reden, – ist es nicht schon weit genug gekommen, da sich diese guten Leute ihrer eigenen Gestalt zu schämen angefangen haben? Was werden die Folgen davon seyn? Und wie hat es der Scharfsinnigkeit des weisen Abulfauaris entgehen können, daß er von dem Augenblick an, da er ihren Weibern und Töchtern seine Röcke und Mäntelchen austheilte, Eitelkeit, Begierde sich heraus zu putzen, Eifersucht, Mißgunst und Zwietracht zwischen ältern und jüngern Schwestern, Töchtern und Müttern ausgesäet hat?

»Ich will glauben, daß es ihm selbst in gewisser Betrachtung bequemer gewesen seyn mag, diese Töchter der kunstlosen Natur in Röcken und Mäntelchen vor sich zu sehen; aber –«

Diagoras ist ein Freydenker, wie ich höre, fiel der Priester mit einem gezwungenen Lächeln und einem sanften Kopfwiegen ein, welche dem Griechen von keiner guten Vorbedeutung schienen.

Er hätte dieß bedenken sollen, eh' er zu reden anfing.

Aber wie hätte auch ein Grieche und ein Filosof zu schweigen wissen sollen, da er eine so schöne Gelegenheit zum Reden vor sich sah?


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