Christoph Martin Wieland
Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit
Christoph Martin Wieland

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6.

Wie alle Meinungen der Menschen, selbst die ungereimtesten, sich immer auf irgend eine Thatsache stützen; und wie wir Sterbliche fast immer nicht durch das was wir sehen, sondern durch das was wir daraus schließen, betrogen werden: so scheint es auch hier ergangen zu seyn. Man bemerkte von einem gewissen Punkte bis zu einem andern eine stufenweise Abnahme; und nun schloß man: die Menschen haben also immer abgenommen, und werden immer abnehmen; haben schon zu Homers, ja schon zu des Patriarchen Jakob Zeiten abgenommen; sind folglich desto größer und vollkommner gewesen, je näher sie dem Ursprung der Menschheit waren, und werden desto schlechter, je weiter sie sich davon entfernen. Und nun ließ man die Einbildungskraft ausrennen.

Ich will – um die Sache durch ein etwas kurzweiliges Beyspiel zu erläutern – nur bey einem einzigen Vorzug verweilen, den ein fast allgemeiner Glaube den Menschen der ältesten Welt einräumt – nehmlich den Vorzug einer ungeheuern körperlichen Größe. Wir wollen sehen, was wohl an der Sache seyn mag, und mit welchem Grunde sich daher auf die Abnahme der menschlichen Gattung schließen läßt.

Nach dem Berichte der Talmudisten war Adam, selbst nach dem leidigen Fall, (wodurch er auch in diesem Stück unendlich viel verlor) noch immer neun hundert Ellen hoch; so daß ein Swiftischer Brobdignak gegen ihn nur ein Lilliputter gewesen wäre. Die Araber (nach der Erzählung des Wanderers Monkonys) machen sich keinen viel kleinern Begriff von der Größe unsrer ersten Stammältern; denn sie zeigen bis auf diesen Tag drey Berge oder Hügel in der Ebene von Mekka, auf deren einen Eva ihren Kopf und auf die beiden andern (welche zwey Musketenschüsse weit von jenem abstehen) ihre Knie bey einer gewissen Gelegenheit gestützt haben soll.Dictionaire de Bayle, article Adam. – Doch man weiß, daß die Morgenländer starke Liebhaber vom Vergrößern sind. Wir wollen uns also an einen neuern abendländischen Gelehrten halten, der sich viele Mühe gegeben hat, auf den Grund der Sache zu kommen.

Herr Nikolaus Henrion, Mitglied der Academie des Inscriptions zu Paris im ersten Viertel dieses Jahrhunderts, ein Mann, der eine große Stärke in den morgenländischen Sprachen besessen haben soll, arbeitete viele Jahre Tag und Nacht an einem großen Werke über Maße und Gewichte aller Zeiten und Völker des Erdbodens. Es war seine Lieblingsbeschäftigung; aber je mehr er Entdeckungen machte, und je tiefer er sich in die alte Welt hinein grub, je mehr wuchs seine Arbeit ins unermeßliche; und so überraschte ihn der Tod, eh' er damit zu Stande kommen konnte. Der Umstand, daß alle Völker von jeher mit Füßen gemessen haben, brachte ihn auf Untersuchung der verschiedenen Größe des menschlichen Fußes, und diese auf Ausmessung der ganzen Größe der Menschen in verschiedenen Zeitaltern. Im Jahr 1718 brachte er der Akademie eine kronologische Tabelle der Verschiedenheiten der Länge des menschlichen Körpers, von Erschaffung der Welt an bis zur christlichen Zeitrechnung, so wie er sie nach seinen vermeinten Entdeckungen ausgerechnet hatte. Vermöge derselben hätten sich zwar die Rabbinen um etwas verrechnet; jedoch bliebe unsern Stammältern immer noch eine sehr ansehnliche Länge. Adam war, nach Henrions Tabelle, ein hundert drey und zwanzig Fuß neun Zoll Pariser Maß, und Eva ein hundert und achtzehn Fuß neun und drey Viertel Zoll lang; beide also ungefähr achtzehn bis zwanzig Fuß länger als der berühmte Koloß zu Rhodus. Bey der neunten Generation zeigte sich bereits eine merkliche Abnahme; Noah hatte schon zwanzig Fuß weniger als Adam; und bey der neunzehnten schrumpfte das Menschengeschlecht vollends zu wahren Zwergen ein; denn Vater Abraham maß nur noch sieben und zwanzig bis acht und zwanzig Fuß. Nun wurden die Zeiten immer schlechter; so daß für Mose nur dreyzehn und für den Thebanischen HerkulesDer nach Frerets Berechnung (Memoir. de l'Acad. des Inscr. Tom. VII. p. 485) ungefähr zwey hundert Jahre später ist als Moses. kaum zehen Fuß blieben. Alexander der Große mußte sich an sechs Fuß begnügen lassen; und Cäsar (zu dessen Zeiten man die Größe eines Mannes schon lange nicht mehr nach Füßen ausmaß) konnte ein großer Mann mit fünfen seyn.

Schade daß die Akademie der Aufschriften uns nicht wenigstens einen Theil der Gründe und Belege hat mittheilen wollen, womit Henrion diesen merkwürdigen Maßstab der Menschheit ohne Zweifel zu rechtfertigen im Stande war! Man hätte sie doch wohl in seinen nachgelaßnen Papieren finden sollen. Insonderheit hätte ich sehen mögen, aus was für Gründen er uns hätte begreiflich machen wollen, wie, zu einer Zeit, da die menschliche Gattung schon auf zwölf bis dreyzehn Fuß eingeschrumpft war, die Kinder Enaks noch so ungeheure Popanze seyn konnten, daß die Israelitischen Kundschafter sich selbst gegen jene nur wie Heuschrecken vorkamen.4. B. Mose 13.

Der Abbé Tilladet hatte der Akademie, schon lange zuvor (im Jahre 1704) eine Abhandlung über die Riesen vorgelesen, worin er aus heiligen und profanen Skribenten bewies, daß es in den ersten zwey Jahrtausenden Riesenvölker gegeben habe, und daß nicht nur Adam und die ersten Patriarchen, sondern auch die Anführer der morgenländischen Kolonien, die nach und nach die Abendländer bevölkert haben, insgesammt Riesen gewesen.

Einige Jahre darauf nahm Mahüdel die Frage wieder auf, und weil ihn däuchte, daß Tilladet die Sache ein wenig zu leichtgläubig und seichte behandelt habe, so untersuchte er sie, in der ächten Shandyischen Manier, als ein Naturkundiger, Zergliederer, Mechanikus, Geschichtsforscher, Kunstrichter, Staatsmann, Moralist, Ökonomist u. s. w., und so fand sich denn freylich, daß die Männer, die, mit einer Fichte statt des Stabes in der Hand, über Berg und Thal daher schritten, und denen, wenn sie ins Meer hinein gingen, das Wasser kaum bis an die Kniekehlen reichte, bey genauerer Ausmessung zu ganz leidlichen Ungeheuern wurden; so wie das fürchterliche weiße Gespenst, das uns die Haare zu Berge stehen machte, beym Lichte besehen und mit Händen betastet, zu einem unschuldigen – Hemde wird. Dieß gilt nicht nur den Mährchen solcher Geschichtsschreibe wie zum Beyspiel der Mönch HelinandEin Kronikschreiber aus dem Anfange des dreyzehnten Jahrhunderts, auf dessen Glaubwürdigkeit die schöne Erzählung beruht von der Entdeckung des Grabes des vom Virgil besungenen Prinzen Pallas, Evanders Sohn, und wie man dessen Leichnam zwey tausend drey hundert Jahre nach seiner Beerdigung noch unversehrt gefunden, und wie er, da man ihn an die Stadtmauer zu Rom angelehnt, um den ganzen Kopf über die Mauer empor geragt habe, und so weiter. Welches alles ihm der ehrliche Alfons Tostat, Bischof von Avila, umständlich und getreulich nachsagt. Dieser Tostat ist der große Vielschreiber, dem man nachgerechnet hat, daß er, um die sieben und zwanzig dicken Folianten, woraus seine Werke bestehen, bey Leibesleben zu Stande zu bringen, seine Kindheit abgerechnet, jeden Tag wenigstens fünf Bogen schreiben mußte. Wer einen so dringenden Beruf zum Schreiben hat, dem bleibt freylich keine Zeit zum Denken übrig. und sein leichtgläubiger Nachschreiber Tostat; nicht nur der Höhle des Polyfemus, dieses berühmten Cyklopen, der nach Fasels Versicherung zwey hundert Ellen lang war, und zu Drepano in einer Höhle wohnte, die der Jesuit Kircher (der sie gemessen) sieben bis acht Fuß hoch befunden; nicht nur dem sechs und vierzig Ellen langen Skelet des Orion in Kreta, (beym Plinius) welches die Kritik mit gutem Fug auf sechs Ellen herunter setzt; und das auch dann noch immer für eine Reiseschreibers-Lüge groß genug ist: selbst Goliath und König Og von Basan, für deren ungeheure Statur wir ein sehr ehrwürdiges Zeugnis haben, sinken ohne Nachtheil der Autorität desselben, nach Mahüdels Berechnung, zu einer unsre Einbildungskraft weniger ermüdenden Länge herab. Kurz, seiner bescheidenen Meinung nach, sind zwölf Fuß das höchste, was man irgend einem Riesen zuzugestehen schuldig ist, und die beglaubte Geschichte stellt keinen einzigen auf, der dieses Maß überschritten hätte.

So wenig dieß auch denen vorkommen mag, die von einem zwey hundert Ellen langen Kerl wie von der alltäglichsten Sache von der Welt sprechen: so dünkt mich doch, Mahüdel habe den festen Punkt der wahren kolossalischen Größe des Menschen noch viel zu hoch gesetzt, und man habe, um der Mythologie und Geschichte alle Billigkeit zu erweisen, nicht nöthig sie über sieben Fuß anzunehmen; denn die höchst seltnen Ungeheuer, die dieß Maß überschritten haben möchten, verdienen, wenn die Frage von höchster natürlicher Vollkommenheit ist, eben so wenig in Betracht zu kommen, als die zwey- oder dreyköpfigen Mißgeburten.


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