Christoph Martin Wieland
Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit
Christoph Martin Wieland

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Reise des Priesters Abulfauaris ins innere Afrika.

1.

Es giebt harte Köpfe, welche nicht begreifen können: Daß äußerliche Formen der Tugend nicht die Tugend selbst sind; daß gewisse lächerliche Gebräuche, womit bey gewissen Völkern, z. B. bey den Hottentotten und Kamtschadalen, gewisse ehrwürdige Handlungen begleitet werden, diesen Handlungen nicht das geringste von ihrer innerlichen Würdigkeit benehmen; und daß (unparteyisch von der Sache zu reden) ein nacktes Mädchen in Kalifornien, trotz ihrer Nacktheit, wenigstens so züchtig seyn kann, als die ehrsame Dame Quintagnone, Oberhofmeisterin der Königin Genevievre, (für welche wir übrigens alle gebührende Ehrfurcht tragen) in ihrem großen Kragen, und in ihrer wohl ausgesteiften, sehr decenten und sehr barockischen Vertügade.

Einer von diesen Leuten – doch, was hindert uns, gewissen spitzfindigen Forschern eine Mühe zu ersparen, und es gerade heraus zu sagen, daß es ein alter Ägyptischer Priester, aus den Zeiten des Königs Psammuthis des Dritten, war? – kam, wir wissen nicht wie noch warum, in ein Land im innern Afrika, wo er eine kleine Völkerschaft von fingernackten Leuten unschuldig und zufrieden unter ihren Palmbäumen wohnen fand.

Zum Unglück für dieß gute Völkchen war dieser Reisende – den unsere Nachrichten Abulfauaris nennen – kein Gymnosofist. Indessen hatte er doch Augen, und, was einem jeden Priester Ehre macht, ein gewisses natürliches Gefühl, welches ihn wahrnehmen ließ, daß diese nackten Leute sehr unschuldige Sitten hatten.

Er gestand in dem Berichte, den er dem Könige Psammuthis nach seiner Zurückkunft von dieser Reise erstattete: – »Daß die Ägypter – ungeachtet unter allen Nazionen des Erdbodens sie allein (wie er aus Patriotismus und – Unwissenheit meinte) sich rühmen können, Religion, Polizey und Sitten zu haben – dennoch in gewissen Tugenden von diesen unglücklichen Wilden unendlich übertroffen würden. Nichts gleicht, sagte er, der Sittsamkeit ihrer Töchter, als das anständige Betragen der Jünglinge, denen alle diese Ausschweifungen, welchen bey uns die strengsten Strafgesetze kaum Einhalt thun können, etwas gänzlich unbekanntes sind. Knaben und Mädchen werden von der Kindheit an gewöhnt, bis ins achtzehnte Jahr der ersten und bis ins funfzehnte der andern, von einander abgesondert zu seyn. Nur von dieser Zeit an ist ihnen erlaubt, an festlichen Tagen, in Gegenwart ihrer Ältern, mit einander zu spielen und zu tanzen. Denn da dieses das Alter ist, worin alle jungen Leute, in so fern keine natürliche Untüchtigkeit es verhindert, verbunden sind sich zu verehelichen: so sieht man es gern, daß die Ehestandskandidaten beiderley Geschlechts einander vorher kennen lernen, um eine Wahl zu treffen, welche bey diesem Volke lediglich dem Herzen überlassen wird.

»Die Ehe (setzt er hinzu) ist in ihren Augen etwas so ehrwürdiges, daß sie keinen Begriff davon zu haben scheinen, wie man einer solchen Verbindung ungetreu seyn könne. Ein Mann oder eine Frau, welche sich dieses Vergehens schuldig machten, würden auf lebenslang für unehrlich gehalten, und von aller Gesellschaft ausgeschlossen werden. Allein man hat von Menschengedenken her kein Beyspiel, daß sich dieser Fall zugetragen hätte.« – –

Armes ehrliches Völkchen, was hattest du gethan, um mit einem Priester der Isis heimgesucht zu werden!


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