Christoph Martin Wieland
Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit
Christoph Martin Wieland

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17.

Vergleichen wir die verschiedenen Klassen der natürlichen Dinge unter einander, so zeigt sich, – daß untern allen der Mensch am wenigsten das geboren wird was er seyn kann; daß die Natur für seine Erhaltung dem Ansehen nach, am wenigsten gesorgt hat; daß sie ihn übel bekleidet, unverwahrt gegen Frost, Hitze und schlimmes Wetter, und unfähig ohne langwierigen fremden Beystand sich selbst fortzubringen, auf die Welt ausstößt; – daß der Instinkt, der angeborne Lehrmeister der Thiere, bey ihm allein schwach, ungewiß und unzulänglich ist: – und warum alles das, als »weil sie ihn durch die Vernunft, die er vor jenem voraus hat, fähig gemacht, diesen Abgang zu ersetzen?«

Der Mensch, so wie der der plastischen Hand der Natur entschlüpft, ist beynahe nichts als Fähigkeit. Er muß sich selbst entwickeln, sich selbst ausbilden, sich selbst diese letzte Feile geben, welche Glanz und Grazie über ihn ausgießt, – kurz, der Mensch muß gewisser Maßen sein eigener zweyter Schöpfer seyn. Oder vielmehr –

Wenn es die Natur ist, die im Feuer leuchtet, im Krystall sechseckig anschießt, im Wurme sich einspinnt, in der Biene Wachs und Honig in geometrisch gebaute Zellen sammelt, im Biber mit anscheinender Vorsicht des Zukünftigen Wohnungen von etlichen Stockwerken an Seen und Flüssen baut, und in diesen sowohl als vielen andern Thierarten mit einer so zweckmäßigen und abgezirkelten Geschicklichkeit wirkt, daß sie den Instinkt zu Kunst in ihnen zu erhöhen scheint: warum sollte es nicht auch die Natur seyn, welche im Menschen, nach bestimmten und gleichförmigen Gesetzen, diese Entwicklung und Ausbildung seiner Fähigkeiten veranstaltet? – Dergestalt, daß, so bald er unterläßt, in allem, was er unternimmt, auf ihren Fingerzeig zu merken; so bald er, aus unbehutsamem Vertrauen auf seine Vernunft, sich von dem Plan entfernt den sie ihm vorgezeichnet hat, – von diesem Augenblick an Irrthum und Verderbniß die Strafe ist, welche unmittelbar auf eine solche Abweichung folget.

Und hat nicht die Natur, eben so wie sie uns die Vollendung unser selbst anvertraut hat, auch über die andern Dinge dieser Welt uns eine solche Gewalt gegeben, daß ein großer Theil derselben als bloße Materialien anzusehen ist, welche der Mensch nach seinem Gefallen umgestaltet, aus denen er so viele Welten nach verjüngtem Maßstab, oder Welten nach seiner eignen Fantasie erschaffen kann als er will? Wohl verstanden, daß er in allen Betrachtungen besser thäte gar nichts zu thun, als nach Regeln und Absichten zu arbeiten, welche mit denjenigen nicht zusammenstimmen, nach welchen das allgemeine System der Dinge selbst, mit oft unterbrochner, aber immer durch die innerliche Güte seiner Einrichtung von selbst wieder hergestellter Ordnung, von seinem unerforschlichen Urheber regiert wird.

Alles dies vorausgesetzt, werden wir uns keinen unrichtigen Begriff von der Kunst machen, wenn wir sie uns als »den Gebrauch vorstellen, welchen die Natur von den Fähigkeiten des Menschen macht, theils um ihn selbst – das schönste und beste ihrer Werke – auszubilden, theils den übrigen ihm untergeordneten Dingen diejenige Form und Zusammensetzung zu geben, wodurch sie am geschicktesten werden, den Nutzen und das Vergnügen des Menschen zu befördern.« – Die Natur selbst ist es, welche durch die Kunst ihr Geschäft in uns fortsetzt: es wäre denn, daß wir ihr unbesonnener Weise entgegenarbeiten, und, indem wir sie nach willkührlichen oder mißverstandenen Gesetzen verbessern wollen, aus demjenigen, was nach dem ersten Entwurf der Natur ganz hübsche Figuren hätten werden sollen, – Ostadische Bürlesken, oder Zerrbilder in Kallots Geschmack heraus künsteln; welches, wie wir vielleicht in der Folge finden werden, zuweilen der Fall der angeblichen Verbesserer der menschlichen Natur gewesen zu seyn scheint.

Der gewöhnliche Gang der Natur in dieser Auswicklung und Verschönerung des Menschen ist langsam – und sie scheint sich darin mehr nach den Umständen als nach einem einförmigen Plan zu richten.

In der That haben diejenigen ihren Geschmack nicht der Natur abgelernt, in deren Augen die Mannigfaltigkeit in der fysischen und sittlichen Gestalt der Erdbewohner eine Unvollkommenheit ist.

Das menschliche Geschlecht gleicht in gewisser Betrachtung einem Orangenbaum, welcher Knospen, Blüthen und Früchte, und von diesen letztern grüne, halb zeitige und goldfarbne, mit zwanzig verschiedenen Mittelgraden, zu gleicher Zeit sehen läßt.

Es scheint widersinnig, zu fordern daß die Knospe ein Apfel werden soll, ohne durch alle dazwischen liegende Verwandlungen zu gehen: aber gar darüber ungehalten zu seyn, daß die Knospen nicht schon der Apfel ist, – in der That, man muß sehr wunderlich seyn, um der Natur solche Dinge zuzumuthen.

Was die Kunst, oder, mit andern Worten, was die vereinigten Kräfte von Erfahrung, Witz, Unterricht, Beyspiel, Überredung und Zwang, an dem Menschen zu seinem Vortheil ändern können, sind entweder Ergänzungen der mangelhaften Seiten oder Verschönerungen; welche letzteren, wenn sie ihren Nahmen mit Recht führen sollen, sehr wesentlich von bloßen Zierathen verschieden sind.

Jene setzen voraus, daß der Mensch seine Bedürfnisse fühle, und stehen mit der Beschaffenheit und Anzahl derselben in Verhältniß: diese sind die Früchte einer durch die Einbildungskraft erhöheten und verfeinerten Sinnlichkeit, und findet nicht eher Statt, bis wir durch die Vergleichung mannigfaltiger Schönheiten in der nehmlichen Art uns von Stufe zu Stufe zu dem Ideal dieser Art erhoben haben.

Fordern, daß die Liebe des jungen Koxkox und der schönen Kikequetzel so fein und romantisch wie die Liebe zwischen Theagenes und Chariklea hätte seyn sollen, hieße ihnen übel nehmen, daß sie das einzige Menschenpaar im ganzen Mexiko waren; und es wäre eben so weise, wenn man die arme Kikequetzel tadeln wollte, daß sie nicht so zart-fühlend und gesittet und geistreich, wie die idealische Peruvianerin der Madame Graffigny, als wenn man die abgeschmackt fände, weil sie nicht à la Rhinoceros oder à la Comete aufgesetzt war.


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