Christoph Martin Wieland
Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit
Christoph Martin Wieland

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3.

Man erlaube mir hier eine kleine Abschweifung, die uns nicht weit von der Hauptsache führen soll.

In den Zeiten der Entnervung der Menschheit durch Üppigkeit und alle übrigen Folgen des Reichthums und der höchsten Verfeinerung oder Überspannung,Dieß letzte war eigentlich der Fall der Römer; aber die Folgen von beiden sind am Ende ziemlich ähnlich; nur daß Erschlaffung aus Überspannung bey weitem ein schlimmerer Zustand ist als Schwäche aus Verfeinerung. ist es weniger die körperliche Schwäche als die Abwürdigung und Entkräftung der Seelen, die Stumpfheit ihres innern Sinnes für das wahre Große, was sie gegen die herrlichen Naturmenschen der Vorwelt so klein erscheinen macht. Wie sollten sie das Vermögen haben zu thun was diese vermochten, da sie nicht einmahl fähig sind das Große in den edelsten Gesinnungen oder Handlungen derselben zu fühlen?

Plutarch hat uns in seinem Leben des Pompejus ein sehr auffallendes Beyspiel hiervon aufbehalten, das einen Zug von Achills Betragen in der großen entscheidenden Scene der Ilias betrifft. Um meine Leser darüber selbst urtheilen zu lassen, muß ich diese Scene mit zwey Worten in ihr Gedächtniß zurück rufen. Die Trojer alle haben sich vor der Wuth des Achilles hinter die Mauern ihrer Stadt geflüchtet; die Thore sind verschlossen; nur der einzige Hektor ist außer den Mauern zurück geblieben, entschlossen zu sterben oder dem Zerstörer seines Volkes das Leben zu nehmen; das Griechische Heer steht in einiger Entfernung gegen über, und die Götter schauen schweigend vom Olymp herab. Hektor, unerbittlich dem Flehen seines Vaters und seiner Mutter, steht und erwartet den kommenden Feind. Aber indem Achilles, »dem Gott der Schlachten gleich, in seinem Harnisch, der wie lodernd Feuer oder wie eine Morgensonne Strahlen wirft, den furchtbaren Speer in seiner Rechten schwingend, auf ihn zugeht,« – überfällt ein ungewohntes Entsetzen Hektorn; ihm entsinkt der Muth, der ihn zur letzten Hoffnung seines unglückseligen Volkes und Hauses machte; er kann den Anblick des Stärkeren, der über ihn gekomment ist, nicht ertragen, er flieht. Dreymahl jagt ihn Achilles rund um die Mauern von Troja, und so oft der verstürzte Hektor, Hülfe von den Seinigen zu erhalten, sich innerhalb eines Pfeilschusses den Thürmen nähern will, treibt ihn jener wieder ins offne Feld gegen die Stirne des Griechischen Heeres zurück – winkt aber zugleich den Seinigen mit dem Kopfe und wehrt ihnen, mit Pfeilen nach Hektorn zu schießen, »damit nicht ein andrer ihm den Ruhm wegnähme, Hektorn erledigt zu haben; und Er nur der Zweyte wäre.«

Wer die Ilias auch nur mit dem mäßigsten Antheile von Menschensinn gelesen hat, muß fühlen, daß Achilles nicht Achilles hätte seyn müssen, wenn es ihm in diesem glorreichen entscheidenden Augenblicke hätte gleichgültig seyn sollen, ob die Seele seines Freundes Patroklus und aller übrigen Griechen, welche Hektor zum Orkus gesendet hatte, durch ihn oder durch einen andern gerochen würde, und Troja durch seine oder eines andern Hand fiele. Gleichwohl (spricht Plutarch) fanden sich Leute,Er sagt uns nicht, wer sie waren; die Rede ist aber von denen, die den Pompejus wegen eines gewissen wirklich unedlen Verfahrens in dem Kriege mit den Seeräubern tadelten. Wahrscheinlich waren es nicht weise Römer, wie Dacier meint, sondern Graeculi, Moralisten von Profession, von den scharfsichtigen Herren, die den Wald vor den Bäumen nicht sehen können. die in diesem Gefühl und Betragen des Achilles etwas unendlich kleines fanden. »Achilles, sagten sie, thut hier nicht die That eines Mannes, sondern eines thörichten nach Ruhm schnappenden Knaben.« Die feinen Moralisten! Nach dem hohen Ideal dieser Schulmeister hätte es Achilles gleich viel seyn sollen, wer Hektorn erlegte, Er oder Thersites, wenn die That nur gethan würde; denn »dem Weisen ists ja nie um sich, sondern immer nur um die Sache selbst zu thun!« – O die Graeculi, die Graeculi! Wie sehr Achill zu beklagen ist, daß er kein Stoiker war! daß er zu früh in die Welt kam, um bey einem Chrysippus oder Posidonius in die Schule zu gehen, und zu lernen, was für eine kindische Sache es um die Leidenschaften ist! – Freylich, in den wilden Zeiten, worin er das Unglück hatte geboren zu werden, wußten die Leute noch wenig von guter Lebensart. Da zankten Könige und Feldmarschälle sich noch im bittersten Ernst um – eine hübsche Dirne, geriethen um so einer Kleinigkeit willen in solche Wuth, daß sie, mit Hintansetzung aller Wohlanständigkeit, einander schimpften wie die Karrenschieber. – Da setzte sich der göttliche Achill ans Ufer hin und weinte wie ein kleines Mädchen, daß ihm Agamemnon seine Puppe genommen, oder (was in den Augen eines stoischen Schulmeisters auf Eines hinaus lief) daß ihm die Griechen seinen verdienten Antheil an der Beute, an deren Gewinnung er sein Leben gesetzt, wieder weggenommen und ihn dadurch beschimpft hatten, u. s. w. Welche Thorheiten, welche Kindereyen! Und der einfältige Homer, der selbst Kind genug war aus solchen Kindern seine Helden zu machen, ließ sich so wenig davon träumen, wie irgend eine große Natur ohne Leidenschaft seyn könnte, daß er auch sogar seine Götter mit eben so läppischen Leidenschaften begabte – wofür ihm denn auch Plato, Cicero und so viele andere große Männer, (die zwar weder Iliaden gethan noch Iliaden gedichtet haben) nach Verdienen den Text gelesen haben! – Doch freylich, was können am Ende Homer und seine Helden dafür? Die trugen die Last ihrer Zeiten, wo die Menschen noch waren wie sie die bloße Natur macht – wie sie in dem groben ungeschliffenen Zustand eines Volkes, das noch Nerven hat, seyn können. Ach! die Nerven! die Nerven! die sind immer (wie Herr Pinto weislich bemerkt hat) an allem Übel schuld! Man kann daher nicht genug eilen, sie ihrer unbändigen, so viel Unheil in der Welt stiftenden Schnellkraft zu berauben! Denn, haben wir nur diese erst einmahl weggeschwelgt oder wegfilosofiert oder weggetändelt, oder auf welche Art es sey außer Aktivität gesetzt: dann räckeln wir uns hin, und, weil wir keine Nerven mehr haben um zu lieben oder zu hassen, vernunften oder faseln wir über die Herrlichkeit der Wesen ohne Sinn und Leidenschaften; – und, weil wir keine Nerven mehr haben etwas zu unternehmen und auszuführen, beweisen wir, daß der Weise weder Hand noch Fuß regen, sondern bloß zuschauen müsse; und, weil wir ohne Nerven sind, und in dem Staate, worin wir zu leben die Ehre haben, auch keine nöthig haben, sondern Drahtpuppen, nervis alienis mobilia ligna, sind, schwingen wir uns über die parteyischen kleinfügigen Bürgertugenden hinweg, und – schwatzen von allgemeiner Weltbürgerschaft. – Kurz, je mehr wir durch die Abschälungen und Abstreifungen, die man mit uns vorgenommen, verloren haben, je spitzfindiger werden wir, uns zu beweisen: daß ein Mensch desto vollkommner sey, je abgestreifter er ist, das ist, je weniger er zu verlieren hat; so daß einer erst dann ganz vollkommen wäre, wenn er gar nichts mehr zu verlieren hätte, das ist, wenn er gar nichts mehr wäre; – welches bekannter Maßen das höchste Gut gewisser Fakirn und Schüler des Fohi in Indien und allerdings ultima linea rerum, die unterste Stufe der Abnahme des menschlichen Geschlechts ist, der wir, leider! zwar immer näher und näher kommen, sie selbst aber vermuthlich doch niemahls völlig erreichen werden.


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