Christoph Martin Wieland
Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit
Christoph Martin Wieland

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Über die Behauptung
daß ungehemmte Ausbildung der menschlichen Gattung nachtheilig sey.

1770.

1.

»Das menschliche Herz ist in immer währender Unruhe; nichts unterm Monde kann ihm Genüge thun; es ist ein unersättlicher Abgrund; seine Begierden gehen ins unendliche, u. s. f.«

Von wie vielen sinnreichen und beredten Leuten unter Alten und Neuern, wie oft und auf wie vielerley Art ist dieß nicht gesagt worden! – und wer hat es besser gesagt als Paskal?

Es giebt wenige gelehrte Gemeinplätze, (wenn uns erlaubt ist, das was man locos communes nennt, durch dieses Wort im Deutschen zu bezeichnen) welche, ungeachtet der große Haufe der Gelehrten sich schon so viele Jahrhunderte darauf herum getummelt hat, so erschöpft, zertreten und ausgenutzt seyn sollten, daß sie durch Einzäunung und Bearbeitung nicht eine neue Gestalt gewinnen, und in fruchtbare Plätze verwandelt werden könnten.

Vermuthlich hat es mit dem oben angezognen die nehmliche Bewandtniß: und wiewohl diese Meinung von der Beschaffenheit unsrer Begierden seit undenklichen Zeiten zu so vielen schimmernden Gegensätzen und spruchreichen Deklamazionen Anlaß gegeben hat; so könnte doch wohl seyn, daß das Wunderbare, Unbegreifliche und Geheimnißvolle, welches einige deßwegen auf die menschliche Natur geworfen haben, bey genauerer Untersuchung verschwände, und es auch hier erginge, wie es, nach Tlantlaquakapatli's Regel, gemeiniglich mit dem Wunderbaren zu ergehen pflegt.

In der That, wenn wir uns auf dem Erdoden umsehen, so haben wir Mühe, diesen Menschen zu finden, den die besagten scharfsinnigen und beredten Leute für unser allgemeines Ebenbild ausgeben. Und sollte er auch vielleicht in einer kleinen Anzahl sonderbarer Menschen zu finden seyn: so ist mehr als wahrscheinlich, daß Demokritus oder Sokrates diesen letztern, ehe sie sich mit ihnen eingelassen hätten, zuvor eine gute Dosis Niesewurz verordnet haben würden.

Wenn wir uns auf dem Erdboden umsehen, sagte ich? – Das ist freylich was man schlechterdings thun muß, um den Menschen kennen zu lernen; und kennen sollte man ihn doch, um über ihn zu räsonieren. Aber wo ist derjenige, der in diesem wichtigen Geschäft sich nicht genöthigt sieht, über das Vergangene durchaus, und über das Gegenwärtige größten Theils, aus fremden Augen zu sehen? Die wenigen Filosofen, welche seit dem alten Thales aus Wissenstrieb ausgezogen sind, die Söhne und Töchter des Erdbodens zu beschauen, haben doch immer nur einen kleinen Theil ihrer Zeitgenossen sehen können; und Gemelli Karreri, der einzige, meines Wissens, der aus besagtem Triebe den ganzen Erdboden durchwandert und alle Meere durchirret zu haben vorgiebt, – dieser Gemelli, so eine wichtige Miene er macht, war gewiß kein Filosof.


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