Christoph Martin Wieland
Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit
Christoph Martin Wieland

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7.

Rousseau ist nicht dieser Meinung. Er sieht den Übergang aus dem Stande der Natur in den Stand der Policierung als eine Sache an, die von allen Seiten mit unübersteiglichen Schwierigkeiten umgeben ist. Er kann nicht begreifen, wie Ein Mensch zuerst habe auf den Einfall kommen können, ein Weibchen für sich selbst zu behalten, eine Hütte für sie zurechte zu machen, und der Vater von seinen Kindern zu seyn? – Oder wie etliche Menschen auf den Gedanken hätten gerathen können, Gesellschaft mit einander zu machen, und anders als nach Verfluß vieler tausend Jahre eine so tiefsinnige Wahrheit zu ergründen, als diese ist: daß vier Arme mehr vermögen als zwey, und vier und zwanzig mehr als vier. In diesem Stücke scheint es ihm (ohne Vergleichung) wie dem berühmten Sultan Schach-Baham zu gehen, der immer über die alltäglichsten Sachen zu erstaunen pflegte, und nichts so gut begreifen konnte, als was am unwahrscheinlichsten war; ein Beyspiel, daß Witz und Dummheit auf ihrem äußersten Grade einerley Wirkung thun.

Rousseau hätte vieler Bemühungen des Geistes bey dieser Gelegenheit überhoben seyn können; denn wer in der Welt wird ihm die Folgen streitig machen, die er aus seiner Hypothese zieht? – Die Hypothese ist es, was wir ihm geradezu wegläugnen. Ganz gewiß würde selbst das wilde, ungesellige, dumme, Eicheln fressende Thier, das er seinen Menschen nennt, in Ewigkeit keine Sprache erfunden haben, wie die Sprache Homers und Platons ist. Wer wollte sich die Mühe geben, einen solchen Satz erst durch tiefsinnige Erörterungen zu beweisen? Das heißt die Gründe weitläufig aus einander setzen, warum, vermöge der Gesetzte der Mechanik, ein Gichtbrüchiger schwerlich jemahls auf dem Seile tanzen lernen wird. – Schade um all die schönen Antithesen, die er bey dieser Gelegenheit spielen läßt!

Doch, wir wollen ihm nicht Unrecht thun: es ist sein ganzer Ernst; er sieht alle diese ungeheuern Schwierigkeiten wirklich, von denen er spricht; und sie müssen wohl gewiß entsetzlich in seinen Augen seyn, weil sie ihn beynahe dahin bringen, seine Zuflucht zu einem Deus ex machina zu nehmen. Gleichwohl würden alle diese Fantomen auf einmahl verschwunden seyn, wenn er nur diese zwey Sätze, die einfachsten von der Welt, weniger natürlich gefunden hätte:

»Daß die Menschen aller Wahrscheinlichkeit nach von Anfang an in Gesellschaft lebten – und von allen Seiten mit natürlichen Mitteln umgeben sind, die ihnen die Entwicklung ihrer Anlagen erleichtern helfen.«


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