Christoph Martin Wieland
Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit
Christoph Martin Wieland

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9.

Abulfauaris also – welcher, wie gesagt, zuweilen ein weiser Mann war, und zu allen Zeiten es wenigstens zu seyn schien, auch (wie wir sehen) gute Absichten hatte, – bekam einige Zeit vor seiner Reise in die Geisterwelt (wie die Ägypter den Tod nannten) den Einfall, »die geheime Geschichte seines Lebens zu Papier zu bringen

Ein wunderlicher Einfall von einem Priester der Isis! wird man sagen. – Genug, er hatte ihn.

»Ich widme, sagt er, diese Bekenntnisse meinen geehrtesten Brüdern, den Priestern zu Memfis, Sais, On, Bubastos, Theben, u. s. w. und unsern Nachfolgern. – Sie sollen unter den geheiligten Schriften im Tempel der Göttin zu Memfis aufbehalten und vor profanen Augen sorgfältig verwahrt werden. Meine Absicht ist, daß meine Fehltritte selbst durch die Lehren, welche sich andre daraus ziehen können, wohlthätig werden, und auf diese Weise das Übel, das ich aus Irrthum oder Schwachheit gethan habe, so viel möglich vergüten sollen.«

Wir gestehen, daß diese Stelle uns eine Hochachtung für diesen alten Priester der Isis eingeflößt hat, deren Größe mit der Schönheit einer solchen Gesinnung und mit der Seltenheit derselben bey Personen seines Ordens in gehörigem Verhältniß steht.

Diese Hochachtung, – mit dem billigen Anstande, Bekenntnisse, welche gewisser Maßen das Ansehen eines Testamentes haben, gegen seine ausdrückliche Verordnung, der Gefahr, von profanen Augen gelesen zu werden, auszusetzen; und die Betrachtung, daß er unter profanen Augen vermuthlich die Augen aller derjenigen gemeint habe, welche nicht in den Geheimnissen der Isis eingeweiht worden sind; welches Vortheils, allem Ansehen nach, die wenigsten von unsern Lesern sich werden rühmen können – alles dieß scheint uns die fromme Pflicht aufzulegen, diese Bekenntnisse in der Dunkelheit, worin sie bisher gelegen, mit der ehrwürdigen Mumie ihres ehemaligen Eigenthümers – wo sie auch liegen mag – ungestört ruhen zu lassen.

Und doch – wenn wir auf der andern Seite bedenken, daß der Priester Abulfauaris kein Recht hatte, uns, die wir über zwey tausend Jahre später in die Welt kamen als er, eine Verbindlichkeit aufzulegen, wodurch wir einer höhern Pflicht genug zu thun verhindert werden;

Daß er auf keine Weise berechtigt war, die Vortheile seines warnenden Beyspiels bloß auf seine Ordensbrüder, die Isis-Priester zu Memfis, einzuschränken; und

Daß der Nutzen, welchen wir der Nachwelt durch die Bekanntmachung seiner Bekenntnisse, so viel an uns ist, verschaffen, vermuthlich das einzige Mittel ist, den Schaden, den seine Fehler und Verirrungen der Menschheit zugefügt haben, einiger Maßen zu vergüten: so verschwinden alle unsre Bedenklichkeiten wieder; und so übergeben wir denn – ohne Furcht die pios manes des ehrlichen Priesters Abulfauaris in ihrer Ruhe (die wir ihnen von Herzen gönnen) dadurch zu stören – dem geneigten Leser – seine Bekenntnisse.


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