Christoph Martin Wieland
Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit
Christoph Martin Wieland

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So schildert uns (sagt Tlantlaquakapatli) die Geschichte den Zustand unsrer ältesten Vorfahren. Wie ungleich jener liebenswürdigen Unschuld, welche den guten Koxkox in den Armen seiner zärtlichen Kikequetzel beseligte, als sie noch die einzigen Bewohner der fruchtbaren Thäler waren, die sich am Fuße des Gebirges Kulhuakan verbreiten! als Kikequetzel sich noch nicht träumen ließ, daß ein andrer Mann mehr Mann seyn könne als Koxkox, und dieser noch nicht gelernt hatte, sich für unangenehme Augenblicke in seinem Hause in den Armen einer andern zu entschädigen; als jedes dem andern noch die ganze Welt war; als Kikequetzel, wenn sie mit Emsigkeit an einem Bette von den weichsten Federn arbeitete, sich mit dem Gedanken aufmunterte, »er wird desto süßer ruhen!« – und Koxkox, wenn er die Bäume wachsen sah, die er gepflanzt hatte, sich an der Vorstellung ergetzte, daß seine Kinder unter ihrem Schatten spielen würden! – Und o! wie wenig, (setzt der Filosof mit einem Seufzer hinzu) wie wenig brauchte es, diese Unschuld zu vernichten! Der verwünschte Tlaquatzin! Warum mußte er sich in diese Gegenden verirren!

Doch, Tlantlaquakapatli ist Filosof genug, um sich bald wieder zu fassen, und zu gestehen, daß, wenn auch Tlaquatzin mit der Tante und ihren zwey Nichten nicht gewesen wäre, hundert andere zufällige Begebenheiten, früher oder später, vermuthlich die nehmliche Wirkung hervorgebracht haben würden; und er beschließt seine Erzählung mit einer Betrachtung, welche wir aus voller Überzeugung unterschreiben.

»Die Unschuld des goldenen Alters, (sagt er) wovon die Dichter aller Völker so reitzende Gemählde machen, ist unstreitig eine schöne Sache; aber sie ist im Grunde weder mehr noch weniger als – die Unschuld der ersten Kindheit. Wer erinnert sich nicht mit Vergnügen der schuldlosen Freuden seines kindischen Alters? Aber wer wollte darum ewig Kind seyn? Die Menschen sind nicht dazu gemacht Kinder zu bleiben; und wenn es nun einmahl in ihrer Natur ist, daß sie nicht anders als durch einen langen Mittelstand von Irrthum, Selbsttäuschung, Leidenschaften und daher entspringendem Elend zur Entwicklung und Anwendung ihrer höhern Fähigkeiten gelangen können, – wer will mit der Natur darüber hadern?«


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