Christoph Martin Wieland
Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit
Christoph Martin Wieland

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4.

Dieses vorausgesetzt, scheint es einiger Maßen begreiflich zu werden, wie Rousseau auf den Einfall habe kommen können, sich den ursprünglichen Stand der Menschheit als einen solchen zu denken, wobei der Mensch von dem übrigen Vieh, außer einer vortheilhaftern Bildung, durch nichts – »als die unselige Möglichkeit aus demselben heraus zu gehen« – unterschieden gewesen sey.

»Betracht' ich, spricht er, den Menschen, wie er aus den Händen der Natur kam, so sehe ich ein Thier, das zwar nicht so stark als einige, nicht so behend als andere, aber, alles zusammen genommen, doch unter allen am vortheilhaftesten organisiert ist; ich sehe es sein Futter unter einer Eiche suchen, aus dem ersten besten Bache seinen Durst löschen, sein Lager unter dem nehmlichen Baume nehmen, der ihm zu fressen gegeben hat: und so sind seine Bedürfnisse befriedigt.« –

Doch nicht gar alle! – Es giebt Augenblicke, – welche ich nicht so natürlich beschreiben möchte, als es der eleganteste Schriftsteller aus dem politen Zeitalter Augusts gethan hat, und die man, sogar in London, (wo so viel erlaubt ist was man anderswo für unzulässig halten würde) nicht auf öffentlicher Schaubühne vorzustellen wagt, wie es Aristofanes zu Athen, dem Sitz der Griechischen Urbanität, wagen durfte – Augenblicke – Doch wir wollen unsern Schriftsteller selbst davon reden lassen.

»Zu fressen haben, (fährt Rousseau fort) schlafen, und – sein Weibchen belegen, sind die einzigen Glückseligkeiten, von denen er einen Begriff hat.«S. 24 und 157.

Und damit wir uns nicht etwann einbilden, er lebe mit seinem Weibchen und mit seinen Jungen in einer Art von Familiengesellschaft, wovon wir sogar bey einigen thierischen Gattungen Beyspiele sehen; setzt er – nicht ohne den Grotiussen und Puffendorfen einen verächtlichen Seitenblick zu geben – hinzu:

»Sich die ersten Menschen in eine Familie vereinigt vorstellen, das hieße den Fehler derjenigen begehen, die, wenn sie über den Stand der Natur räsonieren, die Ideen mit hinein bringen, welche sie aus der Gesellschaft entlehnt haben: da doch in diesem primitiven Stande, wo die Menschen weder Häuser noch Hütten noch Eigenthum von irgend einer Gattung hatten, ein jeder sich lagerte wo ihn der Zufall hinführte, ich oft nur für eine einzige Nacht; wo die Männchen und Weibchen eben so zufälliger Weise, wie sie einander ungefähr begegneten und Gelegenheit oder Trieb es mit sich brachte, sich zusammen thaten, ohne daß die Sprache ein sehr nothwendiger Dolmetscher der Dinge war, die sie einander zu sagen hatten, und sich mit eben so wenig Umständen wieder von einander verliefen.«S. 28, 29.

Man kann sich leicht einbilden, daß Leute, die so wenig Umstände mit einander machen, und der süßen Werke der goldenen Venus auf eine so thierische Art pflegen, nicht sehr zärtliche Ältern seyn werden. Auch bekümmert sich, nach Rousseaus Versicherung, der Vater um seine Kinder nichts. Und wie sollte er? da er sie nicht kennt, und vielleicht Jahrtausende vorbey gehen, bis endlich einer von diesen maschinenmäßigen Vätern den Verstand hat, beim Anblick solcher kleiner Geschöpfe die tiefsinnige Betrachtung anzustellen, – »daß er vielleicht durch eine gewisse Operazion, ohne es selbst zu wissen, zu ihrem Daseyn Gelegenheit gegeben habe.«

Was die Mutter betrifft, so ist es freylich ihre Schuld nicht, daß sie sich gezwungen sieht sich eine Zeit lang mit ihrem Kinde abzugeben. – »Sie säugt es Anfangs ihres eigenen Bedürfnisses wegen, (spricht Rousseau) hernach, da die Gewohnheit es ihr lieb gemacht hat, wegen des Bedürfnisses des Kindes selbst. Aber so bald die Kinder groß genug sind sich ihr Futter selbst zu suchen, so verlaufen sie sich von der Mutter, und so kommt es bald dahin, daß sie einander nicht mehr kennen.«S. 29.

Eh' es dahin kommt, hat also die Mutter, man weiß nicht recht warum, die Gütigkeit, ihre Jungen mit sich herum zu schleppen. – »Wahr ists, (sagt unser Filosof) wenn die Mutter umkommt, so läuft das Kind Gefahr mit ihr umzukommen; aber (setzt er tröstlich hinzu) diese Gefahr ist hundert andern Gattungen von Thieren gemein, deren Junge in langer Zeit unvermögend sind ihre Nahrung selbst zu suchen.«S. 12.

Der natürliche Mensch des Filosofen Jean-Jaques ist also (die verwünschte Vervollkommlichkeit ausgenommen) weder mehr noch weniger als ein andres Thier auch; und es ist pure Höflichkeit, daß er ihm die langen krummen Klauen des Aristoteles, und den Schwanz, welchen die Reisebeschreiber Gemelli Karreri und Johann Struys einigen Einwohnern der Inseln Mindero und Formosa zulegen, erlassen hat.S. 6.

Der Rousseauische Mensch ist es, dem der Nahme eines Wilden – den die Spanier den Amerikanern zur Beschönigung ihrer widerrechtlichen Gewaltthätigkeiten gegeben haben – im eigentlichen Verstande zukommt. Er überläßt sich, ohne mindeste Ahnung der Zukunft, dem Gefühl des gegenwärtigen Augenblicks; seine Begierden gehen nicht über seine körperlichen Bedürfnisse hinaus; das große Schauspiel der Natur ist unvermögend ihn aus seiner schlafsüchtigen Dummheit aufzuwecken; in seinem ganzen Leben fällt ihm nicht ein, zu fragen, wer bin ich? wo bin ich? warum bin ich? –

Doch das letztere könnten wir ihm zu gute halten. Es gehört in der That beynahe eben so viel dazu, diese Fragen aus sich selbst zu thun, als sie recht zu beantworten. Aber was Rousseau in der menschlichen Natur entdeckt haben könnte, das ihm Ursache gegeben, nichts natürlicher zu finden als die Ungeselligkeit, welches die Grundlage seines Systems über den ursprünglichen Stand ausmacht, – kann ich nicht errathen.

Seinem Vorgeben nach hat die Natur »sehr wenig dafür gesorgt, die Menschen durch gegenseitige Bedürfnisse einander näher zu bringen, und so wenig als möglich zu den Verbindungen beygetragen, welche sie zum Untergang ihrer Freyheit und Glückseligkeit unter einander getroffen haben.«S. 37.  –

Was für wunderliche Dinge Witz und Galle einen Filosof sagen mache können!


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