Christoph Martin Wieland
Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit
Christoph Martin Wieland

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Betrachtungen über J. J. Rousseaus ursprünglichen Zustand des Menschen

1770.

1.

Die Aufschrift über der Pforte des Delfischen Tempels:

»Lerne dich selbst kennen!«

enthielt ohne Zweifel ein wichtiges, und in der That nicht leichtes Gebot.

Aber daß es, wie Rousseau versichert, – »wichtiger und schwerer sey, als alles was die großen dicken Bücher der Moralisten enthalten,« – ist (mit seiner Erlaubniß) nicht gesagt.

Diese Moralisten, von denen Rousseau so wenig zu halten scheint, konnten doch wohl keinen andern Zweck haben, als in ihren großen dicken Büchern den Inhalt dieses nehmlichen γνωθι σεαυτον zu entwickeln. – Und daß unter so vielen, welche, von Hermes Trismegistus Zeiten bis auf diesen Tag, an der Auflösung dieses Räthsels gearbeitet haben, auch nicht Einer er errathen haben sollte – wahrlich, das würde den Moralisten wenig Ehre machen!

Doch, gesetzt auch sie hätten sammt und sonders, den guten Plutarch mit eingerechnet, ihre Mühe dabey verloren: so begreife ich doch nicht, wie wir weniger aus ihren Büchern lernen könnten, als – was uns die Delfische Pforte lehrt, nehmlich – »daß es dem Menschen gut sey, sich selbst zu kennen.« – Und was haben wir da gelernt?

Der große Punkt ist, – wie wir es anzufangen haben, um zu dieser Erkenntniß zu gelangen? – und hierüber macht uns diese Pforte nicht klüger als der elendeste Kommentar, der jemahls über die Ethik des Aristoteles geschrieben worden ist.

Der obige Ausspruch unsers Freundes Jean-Jaques ist also, wie viel er auch beym ersten Anblick zu sagen scheint, um nichts weiser als wenn jemand sagte: der erste Vers des ersten Buchs Mose enthalte unendlich Mahl mehr Wahrheit als die sämmtlichen Werke aller Naturforscher; weil am Ende doch alles, was uns diese Biedermänner von Himmel und Erde lehren, nur ein sehr kleiner Theil von dem ist, was Himmel und Erde in sich fassen, und (wie Shakspeares Hamlet sagt) noch gar viel in beiden ist, wovon sich unsre Filosofen (selbst den neuesten, dem so viel davon träumt, nicht ausgenommen) wenig träumen lassen.


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