Christoph Martin Wieland
Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit
Christoph Martin Wieland

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12.

Sich in eine Zergliederung der Swiftischen Huyhnhnms und Yahoos einzulassen, um dadurch zu beweisen, wie sehr er sich durch beide an der menschlichen Natur versündigt habe, würde eine wahre Beleidigung der letztern seyn.

Es bedarf keines mühsamen Beweises gegen Rousseau, daß die Wilden in Neuholland nur Embryonen von Menschen sind, und daß ein Embryo von der Natur nicht dazu bestimmt ist, ewig Embryo zu bleiben: aber es bedarf noch weniger eines Beweises, daß Homer seine Helden, Plutarch seine großen Männer, Xenofon seinen Sokrates, seinen Cyrus und seine Panthea, – und die Fidias, Alkamenes und Apelles der Griechen, ihren Apollo, ihre Venus, ihre Grazien, von keinen Yahoos abkopiert haben.

Indessen schien uns doch das Unrecht, welches zwey so berühmte Misanthropen – der eine wissentlich und mit der muthwilligsten Absicht zu beleidigen, der andre aus Laune und in der Einfalt seines Herzens – dem gesammte Menschengeschlecht angethan haben, diese Rüge um so mehr zu verdienen, da das Beyspiel solcher Männer, theils durch Ansteckung, theils durch die natürliche Wirkung ihres Ansehens, die ohnehin nur zu große Anzahl der Schriftsteller zu vermehren droht, die sich ohne Bedenken an der menschlichen Natur versündigen, indem sie den Menschen bald übermäßig erhöhen, bald unter sich selbst erniedrigen.

Wenn wir die Natur nicht beschuldigen wollen, daß ihr gerade dasjenige von allen ihren Werken, worauf sie selbst den größten Werth gelegt zu haben scheint, mißlungen sey: so haben wir gewiß keine Ursache, uns verdrießen zu lassen, daß wir weder Pongo's, noch Platonische Ideen, weder Arkadische Schäfer, noch stoische Weisen, weder Feen-Helden, noch Engel, noch Huyhmhms, sondern – Menschen sind. Aber desto größere Ursache haben wir, gegen alle und jede auf unsrer Hut zu seyn, die uns zu etwas schlechterm als Menschen, ja sogar (aus guten Gründen) gegen diejenigen, die uns aus Hinterlist oder mißverstandener guter Meinung, zu etwas besserm machen wollen.

Die Natur, die immer Recht hat, hat gewiß auch Recht daran gethan, daß sie uns gerade so machte wie wir sind; und wahrlich! es ist nicht ihre Schuld, wenn gewisse Leute, aus einem ihnen selbst unbewußten Fehler ihrer Augen, tausend Schönheiten an der menschlichen Natur überschielen oder (was ihnen nur gar zu oft begegnet) wirkliche Schönheiten für Fehler ansehen.

Uns däucht, man sollte die menschliche Natur mit sehr gesunden und sehr scharfen Augen lange beobachten, und sehr fleißig, nicht in Systemen oder verfälschten Urkunden, sondern in der Natur selbst studiert haben, ehe man sich anmaßen darf, ihre Auswüchse und üppigen Schößlinge abschneiden, und zuverlässig bestimmen zu wollen, worin ihre reine Form und Schönheit bestehe.

Verstümmelungen sind keine Verbesserungen, Gothische Zierathen keine Verschönerungen, – und eine moralische Drapperie, unter welcher die eigenthümliche Gestalt und die wahren Proporzionen der menschlichen Natur unsichtbar werden, verstößt eben so gröblich gegen die allgemeinen Gesetze des Schönen, als die Vertügaden, Wülste und Halskragen des sechzehnten Jahrhunderts, die der Gestalt einer Diana das Ansehen eines Ungeheuers gaben, ohne daß sie der Tugend (deren Bollwerke sie vielleicht seyn sollten) zu sonderlichem Schutze dienen konnten.

Die Fehler der menschlichen Natur sind großen Theils mit ihren Schönheiten zu sehr verwebt, als daß man jene beheben könnte, ohne etwas an diesen zu verderben. Sie hat auch liebenswürdige Schwachheiten, die man ihr lassen muß, weil sie dazu dienen können, gewissen Tugenden eine Grazie zu geben, ohne welche die Tugend selbst sich vielleicht Hochachtung erzwingen, aber nicht gefallen kann.

Alle Verderbnisse der Menschen scheinen mir aus zwey Hauptwurzeln zu entspringen, der Unterdrückung, und der Ausgelassenheit; – wovon jene Muthlosigkeit, Feigheit, Trübsinn, Aberglauben, Heucheley, Niederträchtigkeit, Hinterlist, Ränksucht, Neid und Grausamkeit, – diese alle Arten von Üppigkeit und Unmäßigkeit, Muthwillen, fanatische Schwärmerey, Herrschsucht und Gewaltthätigkeit hervorbringt.

Die Verderbnisse von der zweyten Klasse würden von selbst wegfallen, wenn denen von der ersten durch das einzig mögliche Mittel, durch eine weise Staatseinrichtung und Gesetzgebung, vorgebaut würde. Aber ungereimt ist es, einigen dauerhaften Nutzen von den Maßnehmungen zu erwarten, welche man gegen diesen oder jenen einzelnen Zweig der sittlichen Verderbniß besonders nimmt, so lange man das Übel nicht in der Wurzel angreift, oder angreifen darf; das ist, so lange die menschliche Natur unter den Fesseln seufzt, in welche die Tyranney des Aberglaubens und willkührlich ausgeübter Staatsgewalt in gewissen Jahrhunderten und in gewissen Strichen des Erdbodens sie geschmiedet hat.

Bis dahin scheint alles, was die Filosofie – es sey nun auf einem Thron oder auf einem Lehrstuhl, aus dem Kabinet eines Ministers oder eines Schriftstellers, – zum Besten des menschlichen Geschlechtes, oder eines jeden Volkes, welches noch (mehr oder weniger) die Ketten des Aberglaubens und der willkührlichen Gewalt trägt, zuwege bringen kann, entweder in Linderungsmitteln, (welche das Übel meistens nur so lange verbergen, bis es mit verdoppelter Stärke und größerer Gefahr ausbricht) oder in Zubereitungen zu bestehen, wodurch die Sachen einer gründlichen Verbesserung näher gebracht werden.

Diese gründliche Verbesserung scheint bey einem jeden Volke, das in der Ausbildung schon so weit fortgeschritten ist, um ihrer zu bedürfen und fähig zu seyn, demjenigen aufbehalten zu seyn, der zu gleicher Zeit Weisheit und Macht genug haben wird, eine Gesetzgebung und Staatsverfassung zu bewerkstelligen, in welcher die Triebfedern der menschlichen Natur auch die Triebfedern des Staats sind; durch welche die möglichste Freyheit mit der wenigsten Ungelegenheit erzielt, und keine Gewalt geduldet wird, die ein anderes Interesse hat als das Beste des gemeinen Wesens; wo die verschiedenen Stände und Klassen zu ihrer Bestimmung durch die zweckmäßigsten Institute gebildet werden, und die Gesetze nicht als Gesetze sondern als Gewohnheiten ihre Wirkung thun, wo die Religion den großen Zweck der allgemeinen Glückseligkeit immer befördert, niemahls hemmt, und ihre Diener geehrt und wohl gepflegt werden, aber (gleich den Männchen im Bienenstaate) keinen Stachel haben; wo mehr Bedacht darauf genommen wird, die Tugend zu ehren als zu bezahlen, und dem Laster so gut vorgebauet ist, daß die Gerechtigkeit nur selten strafen muß; wo allgemeiner Fleiß allgemeine Fülle hervorbringt; wo der Genuß der Gaben der Natur und Kunst, der Bequemlichkeiten und Freuden des Lebens, den Sitten unnachtheilig, und nicht bloß der Antheil einer kleinen Anzahl privilegierter Glücklichen ist; mit Einem Worte, wo dieser letzte Wunsch eines jeden Menschenfreundes, öffentliche Glückseligkeit, nicht nur auf Gedächtnißmünzen und Ehrenpforten, sondern in den Gesichtern aller Bürger geschrieben steht: – – eine Gesetzgebung und Staatsverfassung, deren Möglichkeit nur solche läugnen können, welche entweder unfähig oder ungeneigt sind, zu ihrer Bewerkstelligung mitzuwirken.

Talia saecla, suis dixerunt, currite, fusis
Concordes stabili fatorum numine Parcae.

Aber, dieses Befehle der Parzen an ihre Spindeln ungeachtet, schmeichle man sich nicht, diese goldnen Zeiten durch einen plötzlichen Fall vom Himmel, oder, wie man in den Schulen spricht, durch einen Sprung ankommen zu sehen. Wahr ists, der Anfang der Zubereitungen dazu ist seit dem funfzehnten Jahrhunderte in Europa gemacht, und in den verflossenen drey hundert Jahren mancher Schritt auf diesem Wege gethan worden: aber wir werden die Füße im Fortschreiten etwas weiter aus einander setzen müssen, wenn wir vor dem nächsten Platonischen Jahre beym Ziel zu seyn wünschen. Jede Pause wirft uns etliche Schritte zurück; – was niemand unbegreiflich finden wird, der jemahls in einem schwer bepackten und schlecht bespannten Wagen einen steilen Berg hinauf gefahren ist.

Alles müßte mich betrügen, oder diese Sätze, welche, meiner Meinung nach, unter die kleine Anzahl der Wahrheiten gehören, an denen dem ganzen menschlichen Geschlechte gelegen ist, und welche (wie ich nicht zu läugnen begehre) entweder der Kern oder der Zweck, oder der Schlüssel von – oder zu allen meinen Werken, Rhapsodien, Geschichten und Mährchen in Prose und Versen sind – dürften wohl noch nicht so allgemein erkannt und angenommen seyn, daß es überflüssig wäre, wenn sich alle, an welchen der fromme Wunsch der Juvenalischen Amme

Sapere et fari quod sentias,

erfüllt worden ist, mit uns vereinigten, nicht müde zu werden, sie in Prose und Versen, in Scherz und Ernst, in beweisender oder überredender Form, so lange vorzutragen, zu entwickeln und einzuschärfen – bis sie endlich über lang oder kurz ihre wohlthätige Wirkung thun werden.


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