Christoph Martin Wieland
Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit
Christoph Martin Wieland

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Über die von J. J. Rousseau vorgeschlagenen Versuche den wahren Stand der Natur des Menschen zu entdecken
nebst einem Traumgespräch mit Prometheus.

1770.

1.

Ich habe mir seit vielen Jahren (ohne Ruhm zu melden) einige Mühe gegeben, diese sonderbare Art von Menschenkindern, die man (seit der Aufwartung, welche Pythagoras bey einem kleinen Fürsten der Fliasier gemacht hat, den wir ohne diesen Umstand schwerlich zu kennen die Ehre hätten) Filosofen, zu Deutsch Weisheitsliebhaber, nennt, mit einem etwas mehr als gewöhnlichen Fleiße zu studieren; und ich schmeichle mir, sie (den Schotten Johannes Duns und die übrigen seines Gelichters etwa ausgenommen) so ziemlich ausfündig gemacht zu haben.

Es würde Undankbarkeit seyn, wenn ich mir die Miene geben wollte, als ob ich die Gabe, mit den Augen zu sehen, nicht (nächst der guten Mutter Natur) den besagten Weisheitsliebhabern oder weisen Meistern größten Theils zu danken hätte. – Aber alle Dankbarkeit und Ehrerbietung, die ich ihnen schuldig seyn mag, kann mich nicht verhindern zu gestehen, daß die meisten unter ihnen zur Zeit – sehr wunderliche Launen haben.

Das Wort, dessen ich mich bediene, ist in der That, in Rücksicht auf die Sache die ich damit bezeichnen will, sehr gelinde.

Wenn, zum Beyspiel, diese gänzliche Vertiefung in das betrachtende Leben, welche den weisen Demokritus von Abdera, unterdessen daß er in einsamen Orten, ja wohl gar unter den Ruinen eingefallener Gräber, ganze Tage und Nächte durch dem Studieren oblag, seine häuslichen Angelegenheiten gänzlich vernachlässigen machte – wenn, sage ich, diese Vertiefung in die erhabensten oder subtilsten Spekulazionen das wunderlichste wäre, was man diesen Herren nachsagen könnte, so möchte es noch hingehen!

Aber wenn Diogenes in einer Tonne wohnt; Krates mit der schönen und tugendhaften Hipparchia auf öffentlichem Markte Beylager hält; Parmenides die Bewegung läugnet; Anaxagoras behauptet, daß der Schnee schwarz, Zeno, daß der Schmerz kein Übel sey; Plato in seiner Republik auf Gemeinschaft der Weiber anträgt; Pyrrho das Zeugniß der Empfindung für betrüglich ausgiebt; Plotinus versichert, daß er den Vater der Götter und der Menschen mit leiblichen Augen gesehen habe; Julian zu gleicher Zeit den Kaiser, den Cyniker und den Zauberer spielt; die Scholastiker mit großer Ernsthaftigkeit untersuchen, num Deus potuerit suppositare cucurbitam; Kardanus uns bereden will, daß er bey hellem Tage Gespenster sehe; Kartesius der heiligen Jungfrau eine Wallfahrt nach Loretto gelobt, wenn sie ihm zu einem neuen System verhelfen wollte, u. s. w. – so begreife ich in der That nicht, was man zum Behuf aller dieser Weisheitsliebhaber bessers sagen könnte, als – daß ein Filosof seine Launen, Grillen, Abweichungen und Verfinsterungen habe, so gut als ein andrer, und daß, aufrichtig von der Sache zu reden, der eigentliche specifische Unterschied zwischen einem filosofischen Narren und einem gemeinen Narren lediglich darin bestehe, daß jener seine Narrheit in ein System räsoniert, dieser hingegen ein Narr geradezu ist; ein Unterschied, wobey sich auch auf Seiten des Filosofen unter andern dieser Vorzug darstellt, daß er, ordentlicher Weise, ein ungleich mehr belustigender Narr ist als ein gemeiner Narr.


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