Christoph Martin Wieland
Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit
Christoph Martin Wieland

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

14.

In dem Augenblicke, da sie erwachte, lag (wie wir wissen, – sie aber nicht wissen konnte bis sie es sah) ein Jüngling, der erste den sie in ihrem Leben sah, und der, nach unsrer Art zu reden, mehr dem jungen Herkules als dem jungen Bacchus glich, in einem dem Tod ähnlichen Zustande zu ihren Füßen, mit der Hälfte seines Gesichts eine Spanne und anderthalb Daumen über ihrem linken Knie aufgestützt.

Damen können sichs leichter vorstellen, als ichs beschreiben könnte, wie sehr sie über diesen Anblick erschrak.

Durch die Bewegung, welche sie in der ersten Bestürzung machte, veränderte das Gesicht des armen Koxkox seine Lage ein wenig, ohne den Vortheil desselben zu verlieren – wofern es nicht gar dabey gewann; wie sich genauer bestimmen ließe, wenn der Filosof Tlantlaquakapatli seiner zwar sehr umständlichen aber etwas undeutlichen Beschreibung eine genaue Zeichnung beyzufügen nicht vergessen hätte; – eine Unterlassung, um derentwillen eine Menge gelehrter und mühsamer Beschreibungen des Aristoteles, Theofrast, Plinius, Avicenna und andrer Naturforscher der Welt unbrauchbar geworden sind.

Der erste Schrecken des Mädchens verlor sich im dritten oder vierten Augenblicke da sie ihn betrachtete, und verwandelte sich in das lebhafteste Vergnügen, das sie jemahls empfunden hatte, – und welches sie natürlicher Weise beym Anblick eines Wesens fühlen mußte, das ihr zu ähnlich war um kein Mensch, und nicht ähnlich genug um ein Mensch von ihrer Art zu seyn. Sollte es wohl, dachte sie, einer von den Männern seyn, von denen mir meine Mutter sprach, ohne daß ich sie recht verstehen konnte?

Unfehlbar ist es einer, flüsterte ihr etwas in ihrem Busen auf diese Frage zur Antwort.

Des Menschen Herz hat seine eigene Logik, und – mit Erlaubnis des ehrw. Pater Malebranche, eine sehr gute – Dank sey dir dafür, liebe Mutter Natur! Sie thut uns unaussprechliche Dienste. Was wir wünschen ist uns wahr, so lang' es nur immer möglich ist daß wir das Gegentheil unsern eignen Sinnen abdisputieren können.

»Wie kam er hierher? Wo war er zuvor? Warum liegt er hier zu meinen Füßen? Warum liegt sein Gesicht eine Spanne und anderthalb Daumen über meinem linken Knie?

»Schläft er? Wie mag er wohl aussehen wenn er erwacht?

»Wie wird er sich wohl geberden wenn er mich erblickt?

»Wird er mich auch so lieb haben wie meine Mutter mich lieb hatte?«

Dergleichen leise Stimmen ließen sich noch mehr in ihrem Busen hören; aber es würde kaum möglich seyn, sie in irgend eine exoterische Sprache zu übersetzen.

Aber noch gab der Schlafende kein Zeichen des Lebens von sich. Ach! rief sie mit einem ängstlichen Seufzer, sollte er todt seyn? –

Sie konnte diesen Zweifel nicht ertragen. Sie legte zitternd ihre blasse Hand auf sein Herz –

Er war nicht todt – denn in diesem Augenblick erwachte er!

Sie fuhr zusammen, und zog mit einem Schrey des Schreckens und der Freude ihre Hand zurück.

Koxkox kam zu sich selbst, ehe sie sich ganz von ihrem angenehmen Schrecken erholt hatte.

Er hob seine Augen auf, und sah sie – mit einem so freudigen Erstaunen, mit einem so lebhaften Ausdruck von Liebe und Verlangen an, und seine Augen baten so brünstig um Gegenliebe; – daß sie – die keinen Begriff davon hatte daß man anders aussehen könne als es einem ums Herz ist – sich nicht anders zu helfen wußte, als ihn – wieder so freundlich anzusehen als sie nur immer konnte.

Die Wahrheit ist, daß sie ihn so zärtlich ansah, als die feurigste Liebhaberin einen Geliebten ansehen könnte, der nach sieben langen Jahren Abwesenheit, und nach so vielen Abenteuern als Ulysses auf seiner zehnjährigen Wanderung bestand, wohlbehalten und getreu in ihre Umarmungen zurück geflogen wäre. – Aber was das sonderbarste dabey war, ist, daß sie weder wußte noch wissen konnte, warum sie ihn so zärtlich ansah. In der That wußte sie gar nicht wie ihr geschah; genug, es war ihr so wohl bey diesen Blicken und Gegenblicken, daß ihr däuchte, sie fange eben jetzt zu leben an.


 << zurück weiter >>