Christoph Martin Wieland
Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit
Christoph Martin Wieland

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4.

Hätte es, wie aus den angeführten Beyspielen zu folgen scheint, seine Richtigkeit damit, daß die Menschen von jeher ihre höchste Glückseligkeit in Freyheit von Schmerzen, Sorgen und Geschäften, und ich den Genuß angenehmer Empfindungen der Sinne und des Herzens gesetzt haben: so müßte (scheint es) dies Übereinstimmung aller Völker für die Stimme der Natur selbst gehalten, und daraus ganz zuversichtlich geschlossen werden können, daß die Art von Glückseligkeit, welche sie den Sterblichen hienieden zu ihrem Antheil bestimmt habe, eine Sache sey, die ihnen ganz nahe und so völlig in ihrer Gewalt liege, daß es keiner weitläuftigen Anstalten bedürfe, um sich ihrer zu bemächtigen.

Nehmen wir hierzu noch die Betrachtung, daß (nach dem unläugbaren Zeugnisse der allgemeinen Geschichte) der größte Theil der Übel, welche die Menschheit von jeher gedrückt haben und noch immer drücken, durch die Mittel selbst veranlaßt worden, womit man diesen Übeln abzuhelfen vermeint oder vorgegeben hatte;

Bemerken wir ferner, wie nachtheilig in gewissem Sinne dem menschlichen Geschlechte die äußerste Verfeinerung der Sinnlichkeit, des Geschmacks, und gewisser spekulativer Kenntnisse gewesen, und müssen wir dem berühmten Genfer Bürger zugestehen, was sich ohne Unverschämtheit nicht wohl läugnen läßt, – daß beides, Wissenschaften und Künste, so bald sie über die Linie, in welche Sokrates ihre Entwicklung einschränkt, – μεχρι του ωφελιμου – so weit ein wirklicher Nutzen für die menschliche Gesellschaft daher zu erwarten istUm einer billigen Mißdeutung vorzubeugen, wird hier erinnert, daß ich das Nützliche, auf welches Sokrates die Wissenschaften und Künste einschränkt, (wiewohl er eigentlich an dem Orte der Sokratischen Denkwürdigkeiten, auf welchen hier gezielt wird, nur davon spricht, in wie weit sich ein καλος και αγαθος auf jede Kunst oder Wissenschaft zu legen habe) in einem ungleich ausgedehnteren und so weitschichtigen Sinne nehme, daß selbst solchen gelehrten Beschäftigungen, welche nur einen sehr entfernten und unendlich kleinen Einfluß in die Vervollkommnung des allgemeinen menschlichen Systems haben, – von des gelehrten Olaus Rudbecks Atlantica bis zu Altmanns gründlichem Beweise, daß die Lingua Opica eine Sprache sey, wovon weder er selbst noch irgend ein andrer Mensch ein Wort verstehe, – eine Art von Verdienst übrig bleibt. – ausgeschweift haben, der allgemeinen Wohlfahrt mehr nachtheilig als förderlich gewesen sind:

So gewinnt es das Ansehen, als ob die Natur selbst die Entwicklung unsrer Vervollkommlichkeit nur bis auf einen gewissen Punkt gestatten wolle, und den stolzen Versuch sich höher zu schwingen mit nichts geringerm als dem Verlust unsrer Glückseligkeit bestrafe.

Wollten wir Rousseau glauben, so müßte dieser Punkt nicht sehr weit von demjenigen Stande gesetzt werden, den er uns als unsern ursprünglichen Stand (état primitif) anpreist. Da wir, spricht er, unglücklich genug gewesen sind, uns von diesem zu entfernen, so wäre wenigstens zu wünschen, daß wir uns nur in jenen ersten Anfängen (rudimens) des geselligen Standes, worin man die Amerikanischen Wilden gefunden hat, stehen geblieben wären. Dieser Stand scheint ihm das richtige Mittel zwischen der Indolenz des ursprünglichen und zwischen der ausgelassenen Thätigkeit unsrer Eigenliebe zu halten,Ce periode du developpement des facultés humaines, tenant un juste milieu entre l'indolence de l'état primitif et la petulante activité de notre amour propre, dut être l'époque la plus heureuse et la plus durable. Discours sur l'inégalité, p. 70. und ist, seiner Meinung nach, dem Menschen der zuträglichste, den wenigsten gewaltsamen Abänderungen unterworfen, kurz, der dauerhafteste und glücklichste, aus dem (wie er sagt) der Mensch nicht anders heraus getrieben werden konnte, als durch irgend einen Zufall, der, um unsers allgemeinen Bestens willen, sich niemahls hätte ereignen sollen.

Ich bin nicht ungeneigt zu glauben, daß, wofern wir die menschliche Natur in den Karaiben und ihren Brüdern in Kanada, Kalifornien, Neuseeland, u. s. w. ohne Vorurtheile studieren wollten, wir sie in diesen ihren verwilderten Kindern sich selbst viel ähnlicher finden würden als es beym ersten Anblick scheinen mag: aber so sehr beneidenswürdig würde uns ihr Zustand schwerlich vorkommen, als Rousseaus eigensinnige Einbildungskraft sich ihn idealisiert zu haben scheint. Die schrecklichen Gemählde, welche uns selbst der P. Charlevoix (der ihnen überhaupt, so weit es die Grundsätze seines Standes nur immer erlaubten, viele Gerechtigkeit widerfahren läßt) von der unbändigen Wildheit ihrer Leidenschaften, und den wüthenden Ausbrüchen, wozu sie sich dahin reißen lassen, macht, – sind nicht sehr geschickt, uns den Zufall (wenn es einer war) verwünschen zu machen, der uns von einem Zustand entfernt hat, worin unmenschliche Gewohnheiten und barbarische Tugenden mit der eigenthümlichen Güte und Aufrichtigkeit der menschlichen Natur auf die seltsamste Weise zusammen stoßen, und für die Dauer des gemeinschaftlichen Wohlstandes so schlecht gesorgt ist, daß das Vergehen eines Einzelnen alle Augenblicke den Untergang seiner ganzen Nazion nach sich ziehen kann.


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