Christoph Martin Wieland
Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit
Christoph Martin Wieland

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19.

Wir übergehen verschiedene kleine Umstände aus dem einsamen Leben dieses ersten Mexikanischen Paars, über welches sich Tlantlaquakapatli nach seiner Gewohnheit weitläufig ausbreitet – weil er für Mexikaner schrieb; um uns bey Einem zu verweilen, der uns weniger unerheblich scheint.

Unser Filosof hat, wie alle Leute die mit ihrem eigenen Kopfe denken, zuweilen sonderbare und etwas seltsame Meinungen. Uns däucht es ist eine davon, wenn er die Frage aufwirft: Ob es für die Menschen nicht besser gewesen wäre, ohne eine künstliche, aus artikulierten Tönen zusammen gesetzte Sprache zu bleiben?

Wahr ists, er behauptet den bejahenden Satz nicht schlechterdings; jedoch scheint er sich ziemlich stark auf diese Seite zu neigen, indem er alle seine Wohlredenheit aufbietet, um uns die Glückseligkeit anzupreisen, worin die Stammältern seiner Nazion etliche Jahre mit einander gelebt hätten, ohne sich einer andern als der allgemeinen Sprache der Natur gegen einander zu bedienen.

Anfangs schien mir die Thatsache selbst, worauf er sich bezieht, verdächtig zu sein. Allein bey mehrerem Nachdenken glaube ich nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Wahrscheinlichkeit derselben ganz deutlich einzusehen.

Sie hatten, däucht mir, keine künstliche Sprache vonnöthen, weder um einander ihre Begriffe, noch ihre Empfindungen mitzutheilen.

Ich räsoniere – oder deräsoniere (vernunfte oder beywegvernunfteEin von Herrn Campe vorgeschlagenes Wort, dem wir es nicht mißgönnen wollen, wenn es, gegen unser Vermuthen, sein Glück machen sollte. – welches, mag der Leser entscheiden) folgender Gestalt:

Wenn wir von unsern ausgebildeten Sprachen alles dasjenige abzögen, was Dinge oder Begriffe bezeichnet, wovon sich Koxkox und Kikequetzel, und jedes andre Paar das sich jemahls in ihren Umständen befunden hat, nichts träumen lassen konnte, – alle Wörter und Redensarten, welche sich auf unsre häusliche und bürgerliche Einrichtung, auf unsere Gesetze, Polizey, Gebräuche und Sitten, auf unsre Künste und Wissenschaften und auf unzählige Bedürfnisse, welche der rohen Natur fremd sind, beziehen: so würde der Überrest eine so arme Sprache ausmachen, als irgend ein wildes Völkchen in der wildesten Insel des Südmeers haben kann.

Aber auch diese arme Sprache wäre noch mehr als die ersten Mexikaner schlechterdings vonnöthen hatten. Sie würde schwerlich andre Wörter haben, als für Gegenstände, welche man einander eben so gut zeigen, und für Empfindungen, welche man in der Sprache der Natur eben so gut oder noch besser ausdrücken kann.

Eine künstliche Sprache würde ihnen gerade so viel genützt haben, als gemünztes Geld. Was sollten sie mit Zeichen anfangen, ehe sie Begriffe hatten? und wie sollten sie Begriffen von Dingen haben, deren Beziehung auf ihre Erhaltung und Glückseligkeit ihnen noch unbekannt war? Mit so wenigen Bedürfnissen als die ihrigen, und in einer Lage, wo die Natur alles für sie that, konnten sie sich gänzlich den angenehmen Rührungen ihrer Sinne, dem süßen Gefühl ihres Daseyns, und den Ergießungen ihres Herzens überlassen, ohne daß ihnen einfiel ihre Empfindungen zu zergliedern, den Ursachen derselben nachzuforschen, oder sie mit Nahmen belegen zu wollen. Ihre Tage flossen ungezählt und ungemessen in dieser seligen Indolenz dahin, welche der menschlichen Natur so angenehm ist, daß ihr wirklicher Genuß das höchste Gut der Wilden, und der letzte Zweck der unruhigen und mühevollen Bestrebungen des größten Theils aller übrigen Menschen ist, welche, von einer betrüglichen Hoffnung im Lauf erhalten, immer diesem eingebildeten Gute nachjagen, ohne daß die wenigsten von ihnen es jemahls erreichen können.

Diejenigen, welche der menschlichen Seele einen immer regen Trieb und angebornen unersättlichen Hunger nach Vorstellungen zuschreiben, haben die Natur vielleicht nicht genug in ihr selbst, oder doch nicht ohne vorgefaßte Meinungen studiert. Wenn es so wäre wie sie sagen, warum fänden wir so wenig Begierde ihre Kenntnisse zu vermehren oder aufzuklären bey den unzähligen Völkern, welche noch unter dem Nahmen der Wilden und Barbaren den größten Theil des Erdbodens bedecken? Warum wäre dieser heftige Wissenstrieb, selbst unter gesitteten Nazionen, nur der Antheil einer kleinen Zahl von Leuten, in denen er nicht anders als durch einen Zusammenfluß besonderer Umstände erregt und unterhalten wird?

Mit däucht, diejenigen, die sich dieses angeblichen Grundtriebs wegen auf Wahrnehmungen an Kindern berufen, verwechseln eine Thätigkeit, deren Grund lediglich in der Organisazion des Körpers liegt, mit einer andern, wovon die Quelle in der Seele seyn soll, – und die Begierde nach angenehmen sinnlichen Eindrücken mit dem Verlangen nach Begriffen, welches zwey sehr verschiedene Dinge zu seyn scheinen. Besonders seltene Beispiele, die hiervon eine Ausnahme machen oder zu machen scheinen, vermögen nichts gegen einen Erfahrungssatz, der sich auf unzählige einstimmige Wahrnehmungen gründet.

Die Menschen genossen Jahrtausende lang die Früchte der Stauden und Bäume, eh' es einem von ihnen einfiel, Pflanzen zu zergliedern, um zu untersuchen, was die Vegetation sey; und wie viele Veranlassungen, Bemerkungen und Untersuchungen mußten auch vorher gehen, bis es selbst dem spekulativsten Kopf unter ihnen einfallen konnte! Sogar, nachdem unter scharfsinnigern Völkern die Filosofie auf dergleichen Gegenstände ausgedehnt wurde, wie lange behalf man sich nicht mit willkührlichen Begriffen und kindischen Hypothesen! – Und warum das? Vermuthlich weil es bequemer war, schimärische Welten in seinem Kabinette nach selbsterfundenen Gesetzen zu bauen, als mühsame und langwierige Beobachtungen anzustellen, um heraus zu bringen, nach welchen Gesetzen die wirkliche Welt gebauet sey.

Das System der Menschheit hat die seinigen, wie jedes andere besondre System in der Natur. Eines dieser Gesetze scheint zu seyn, daß nichts als Bedürfniß oder Leidenschaft den Naturmenschen zwingen kann, aus diesem müßigen Zustande heraus zu gehen, worin er, ohne irgend eine Anstrengung seiner selbst, seine Sinne den äußern Eindrücken und seine Seele dem launischen Vergnügen von einer Fantasie zur andern ohne Ordnung und Absicht herum zu irren, oder beide – dem Schäferglück

An Chloens Brust von Nichtsthun auszuruhn,

überlassen kann; – es wäre denn, daß durch einen Zusammenfluß besonderer Umstände (wobey jedoch Bedürfniß oder Leidenschaft allezeit das Triebrad bleibt) endlich eine mechanische Gewohnheit, unsern Geist auf eine regel- und zweckmäßige Art zu beschäftigen, in uns hervorgebracht würde; ein Fall, der sich außer der bürgerlichen Gesellschaft nicht leicht ereignen wird. Denn nur in dieser, wo die Erwerbung nützlicher oder angenehmer Kenntnisse und Geschicklichkeiten ein Verdienst ist, welches ordentlicher Weise zu Glück oder Ansehen oder beiden führt, wecken die Leidenschaften den schlummernden Wissenstrieb; – und wie sollten in einem Stande, wo die Natur selbst den wenigen Bedürfnissen noch unentwickelter Menschen zuvor kommt, diese Bedürfnisse ihn erwecken?

Von dieser Seite war also, wie mir däucht, kein Grund, warum unsre ersten Mexikaner eine Sprache vonnöthen gehabt haben sollten.


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