Christoph Martin Wieland
Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit
Christoph Martin Wieland

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20.

Aber vielleicht hatten sie derselben zum Ausdruck ihrer Empfindungen vonnöthen?

Ich denke, nein; es wäre denn, daß wir uns den ehrlichen Koxkox wie einen romantischen Seladon zu den Füßen seiner Asträa vorstellen wollten, wie er ihr in einer süßen Sprache quintessenziierte Empfindungen vorschwatzt, bey denen wahrscheinlicher Weise Er nicht mehr denkt als Sie davon versteht; welches – wofern die Natur sich nicht auf eine oder andere Art ins Spiel einmischte – ungefähr der albernste Zeitvertreib wäre, den man sich im Stande der Natur, oder in irgend einem Stande von der Welt, nur immer einbilden könnte.

Die Empfindungen bey unserm ersten Mexikanischen Paare mußten etwas ganz andres seyn, eine ganz andre Wahrheit und Stärke haben, als diejenigen, womit man zu unsern Zeiten, in einem Stande der sich so weit vom natürlichen entfernt hat, so viel Geräusche zu machen pflegt. Solche Empfindungen, wie sie hatten, auszudrücken, ist nur die Sprache der Natur fähig; diese allgemeine Sprache, die von keinem Grammatiker gelehrt, aber von allen Menschen verstanden wird, und in Sachen, wo es allein auf die Mittheilung unsrer Empfindungen und Begierden ankommt, weniger der Mißdeutung unterworfen ist, als die vollkommenste Wörtersprache der Welt.

Diejenigen, welche diese allgemeine Sprache – diesen beynahe unmittelbaren Ausdruck der Gemüthsbewegungen in den Augen, in den Gesichtszügen und Geberden – entweder in der Natur selbst oder in den Meisterstücken der PantomimikDie großen pantomimischen Tragödien des berühmten Noverre fielen gerade in die Zeit, da dieses geschrieben wurde. studiert haben, wissen, in welcher bewundernswürdigen Vollkommenheit das Angesicht und überhaupt der ganze Körper des Menschen zu dieser Absicht organisiert ist. Wie viel kann eine leichte Bewegung der Hand, eine kleine Falte des Gesichts, ein Blick, eine Stellung des Kopfes sagen! Mit welcher Deutlichkeit, mit welcher Stärke, mit welcher Feinheit und Geschmeidigkeit werden dadurch auch die subtilsten Züge der Empfindungen, ihre verlorensten Abschattungen, ihre leisesten Übergänge und geheimsten Verwandtschaften sichtbar! Durch sie, und durch sie allein, können Seelen sich, wie unmittelbar, mit Seelen besprechen, einander berühren, durchdringen, begeistern, und mit stürmischer Gewalt dahin reißen. Durch sie bringt der Redner oft in einem Augenblicke Wirkungen hervor, welche die vereinigte Macht der Dialektik und Beredsamkeit mit den ausgesuchtesten Worten nicht zuwege gebracht hätte; und mit ihrem Beystande hat der theatralische Dichter (wie Diderot durch Gründe und Beispiele gezeigt hat) in mancher Scene kaum noch einzelner Töne und Sylben vonnöthen, um bey den Zuschauern die gewaltigsten Erschütterungen hervorzubringen. Kurz, diese Sprache der Natur ist die wahre Sprache des Herzens; und demnach sehe ich nicht, warum unsre jungen Mexikaner, im Anfang ihrer Bekanntschaft wenigstens, eine andre nöthig gehabt haben sollten, um einander Empfindungen mitzutheilen, an welchen Kunst und Verfeinerung so wenig Antheil hatten.

Mit einem ganzen Volke hat es freylich eine andere Bewandtnis. Denn, ungeachtet aller Ungemächlichkeiten, Zweydeutigkeiten, Mißverständnisse, Irrthümer, Wortkriege, u. s. w. welche mit einer aus willkührlichen Zeichen bestehenden Sprache unvermeidlich verbunden sind, und es desto mehr sind, je reicher, geschmeidiger und verfeinerter sie ist, – scheint doch nichts gewisser zu seyn, als daß ein ganzes Volk von natürlichen Pantomimen alle diese Ungelegenheiten in einem viel höheren Grade erfahren, und gar bald gezwungen seyn würde, auf ein bequemeres Mittel einer gegenseitigen Gemeinschaft zu verfallen. Auch bey der einfältigsten Lebensart lassen sich hundert Fälle denken, wo es nicht darauf ankommt mit dem Herzen des andern zu reden, sondern mit seinem Kopfe, und wo dasjenige, was man ihm zu sagen hat, durch Geberden entweder gar nicht, oder nur auf eine zweydeutige und mühsame Art zu verstehen gegeben werden kann.

Ich halte es daher für sehr wahrscheinlich, daß Koxkox selbst, nachdem die Trunkenheit der ersten Liebe vorbey war, sich die Mühe gegeben haben werde, seine Freundin in seiner Muttersprache zu unterrichten; und daß diese Sprache, durch die vereinigten Bemühungen des Jünglings, des Mädchens und des Papagayen, nach und nach immer reicher und vollkommener geworden sey.

Die große Schwierigkeit bey Erfindung einer Sprache, wie bey allen Künsten, war nicht, sie zu einem gewissen Grade von Vollkommenheit zu bringen, sondern den ersten Grund zu legen. Eben so war der große Punkt bey Erfindung der Mahlerey, einen Menschen auf den Einfall zu bringen, eine Kohle zu ergreifen und den Umriß eines menschlichen Schattens an eine Wand hinzureißen. Aber die Natur sorgte gemeiniglich selbst für diese ersten Einfälle, welche den Künsten den Ursprung gaben. Der erste Zeichner war ein Liebhaber, oder, wie Plinius zur Ehre des schönen Geschlechts versichert, eine Liebhaberin.

Ich zweifle daher gar nicht, daß Koxkox und Kikequetzel, wenn sie nicht bereits eine Art von Sprache durch ihre Erziehung gelehrt worden wären, sich selbst eine erfunden haben würden. Das natürliche Verhältniß zwischen gewissen Tönen und gewissen Empfindungen konnte ihnen nicht lange unbemerkt bleiben; und dieses hätte sie eben so natürlich auf den Gedanken gebracht, daß Töne geschickt seyen Zeichen abzugeben. Nach und nach hätten sie bemerkt, daß sie fähig seyen, eine Menge mannigfaltiger Töne hervorzubringen. Sie hätten sich angewöhnt, die geläufigsten dieser Töne zu Bezeichnung derjenigen Dinge, womit sie am meisten zu thun hätten, zu gebrauchen. Dieser erste Grundstoff zu einer abgeredeten Sprache würde nach und nach mit den unentbehrlichsten Zeichen ihrer Bedürfnisse, Handlungen und Leidenschaften vermehrt worden seyn. Die natürlichen Gegenstände des Gehörs, das Murmeln eines Bachs, das Säuseln oder Brausen des Windes, das Gebrüll des Löwen oder Stiers, der rollende Donner, würden durch Worte ausgedrückt worden seyn, die den Schall, welchen sie bezeichnen sollten, nachgeahmt hätten. Ähnliche Töne würden vielleicht gebraucht worden seyn, ähnliche Beschaffenheiten an den Gegenständen andrer Sinne zu benennen. So wären sie nach und nach, ohne es selbst zu wissen, die Erfinder einer Sprache geworden – und so ist es vermuthlich mit dem Ursprung einer jeden Sprache hergegangen, deren Erfinder keinen andern Lehrmeister gehabt haben als die Natur.


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