Edmond de Goncourt
Die Dirne Elisa
Edmond de Goncourt

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Wird sie zum Tod verurteilt werden?

Der Tag ging zur Neige, als im gelblichen Dämmerlicht eines Dezemberabends, im unheimlichen Dunkel des Gerichtssaales, während eine Uhr, die man nicht sah, eine gleichgültige Stunde schlug, umgeben von den Assisen, deren Gesichter durch das Rot der Roben wie verlöscht schienen, der Präsident den zahnlosen Mund öffnete, aus dem wie aus einem schwarzen Loch das Resümee kam.

Der Gerichtshof hatte sich zurückgezogen, die Geschwornen befanden sich im Beratungszimmer und das Publikum überflutete das Parkett. Hinter den von Riemenzeug überkreuzten Rücken zweier Gerichtssoldaten drängte man sich an den Tisch heran, auf dem die Corpora delicti lagen, betastete die rote Soldatenhose, entfaltete das blutbefleckte Hemd und versuchte das Messer durch das Loch der steif gewordenen Leinwand zu stecken.

Das Auditorium bot ein buntes Bild. Die Kleider der Frauen hoben sich in leuchtenden Farben von den düsteren Gruppen der Gerichtsbeamten ab. Im Hintergrunde promenierte die rote Silhouette des Staatsanwalts Arm in Arm mit der schwarzen Silhouette des Verteidigers der Angeklagten. Ein Polizist saß auf dem Sessel des Gerichtsschreibers. Aber dieses durcheinanderwogende Menschengewühl machte keinen Lärm, die Worte schienen sozusagen erstorben und eine seltsame und unheimliche Stille lag während dieses Zwischenakts über dem Saale.

Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach: die Frauen mit gesenkten Augenlidern und verschleiertem Blick, die Vorstadtburschen auf der Galerie, deren sonst gestikulierende Hände jetzt wie paralysiert auf der Holzbrüstung lagen. In einer Ecke saß ein Munizipalgardist, der seinen Tschako vor sich auf die Brüstung gelegt hatte und seine nachdenkliche Stirn gegen den harten Kappenschirm rieb. Plötzlich hielten die leise Plaudernden im halben Satz inne ... Jeder versuchte in seinen wirren Gedanken dieses dunkle Drama zu erklären, diesen Mord an dem Infanteristen, den dieses Weib umgebracht hatte, und jeder wiederholte sich die Frage:

Wird sie zum Tod verurteilt werden?


Tiefer wurde das Schweigen, die Dunkelheit immer undurchdringlicher und in jedem einzelnen steigerte sich, mit grausamer Neugierde gemischt, die Spannung, die der Gedanke an die Todesstrafe auslöst, die über einen Menschen verhängt werden soll.

Die Stunden verrannen und die Unruhe wuchs immer mehr.

So oft irgendwo im Justizpalast eine Tür zugeschlagen wurde, ging eine Bewegung durch die Menge. Alles blickte nach der kleinen Tür, durch welche die Angeklagte kommen mußte; einen Augenblick lang blieben die Blicke an ihrem Hut haften, den man dort drüben an den verblichenen Bändern aufgehängt hatte.

Dann versanken all diese Männer und Frauen wieder in stumpfe Unbeweglichkeit. Die lange Dauer der Beratung und die bedeutungsvolle Verzögerung der Urteilsfällung ließ in der Phantasie der Wartenden die roten Balken der Guillotine, den Henker, den ganzen gräßlichen Apparat einer Hinrichtung erstehen, samt dem bluttriefenden Haupt dieses jungen Weibes, das dort hinter der Scheidewand saß.

Lange, unendlich lange dauerte die Beratung der Geschwornen.

Der Saal wurde nur noch durch das blasse Blau einer frostigen Nacht erhellt, das durch die Fensterscheiben fiel.

Ein krummbeiniger Gerichtsdiener kam gespenstig wie ein Teufel durch die Dunkelheit angehumpelt, und verpackte und versiegelte die mit bräunlichen Flecken besudelten Wäschestücke.

Aus dem geheimnisvollen Dunkel traten Einzelheiten hervor. Die Tribünen des Saales, die Wandverschalung, die eben erst erneuert worden war und noch kein Todesurteil vernommen hatte. Das frische Holz trug noch die Spuren schnöder Arbeit und krachte verdächtig in den Fugen, wie von einem geheimnisvollen Leben bewegt, von einer Nervosität gleichsam, ob zu seiner Einweihung ein Hals abgeschnitten werden sollte.

Plötzlich schrillte eine Glocke durch den Saal. Und im selben Augenblick erschien ein Gendarmeriehauptmann in der kleinen Tür, durch die die Angeklagte eintreten mußte – blieb stehen, die Klinke der verschlossenen Tür in der Hand. Jetzt nahmen die Richter ihre Sitze ein. Jetzt kamen die Geschwornen die Treppe herab, die vom Beratungszimmer in den Saal führte.

Verhängte Lampen werden hereingebracht Sie werfen ein rötliches Licht auf den Gerichtstisch, auf die Aktenstücke, auf das Gesetzbuch.

In andächtiger Sammlung hält die Menge den Atem an.

Die Geschwornen haben ihre Plätze eingenommen. Ihre Mienen sind ernst, streng und nachdenklich, als fühlten sie die Majestät ihres hohen Richteramts auf sich lasten.

Da erhebt sich der Vorsitzende, ein weißbärtiger Greis, entfaltet ein Dokument und spricht mit einer Stimme, die von dem, was sie zu sagen hat, plötzlich heiser geworden ist, in schmerzlichem Tone diese Worte:

»Im Namen Gottes und der Gerechtigkeit verkünde ich, daß die Herren Geschwornen alle Schuldfragen mit überwiegender Stimmenmehrheit ohne Zubilligung mildernder Gründe bejaht haben.«

Zum Tod! Zum Tod! Zum Tod! läuft es leise von Mund zu Mund, und anwachsend, gleich einem unaufhörlichen Echo, wiederholt sich noch lange bis in die äußersten Winkel des Saales das Schreckkensgemurmel Zum Tod! Zum Tod! Zum Tod!

Beim Gedanken an die Bedeutung dieses tödlichen »Ja«, dieses gefürchteten und doch unerwarteten »Ja!« läuft ein eisiger Schauer über das Auditorium, von dem selbst die gefühllosen Rechtsvollstrecker ergriffen werden.


Für einen Augenblick stockt – im Verlauf dieser Tragödie – die Erregung der Menschen, und während dieses Augenblicks sieht man, beim Schein der Luster, die angezündet werden, gedankenlose, ziellose Gesten, Hände, die, ohne darauf zu achten, den Rock über dem pochenden Herzen zuknöpfen.


Und dann wird der Befehl gegeben, die Angeklagte vorzuführen. Um besser zu sehen, wie die Urteilverkündung ihr schmerzvolles Gesicht entstellen wird, sind einige auf die Bänke gestiegen.

Mit einem Satz erscheint die Dirne Elisa in der kleinen Tür, und forscht mit gierig-fragendem Blick in den Augen des Publikums nach ihrem Schicksal.

Aber die Augen senken sich, wenden sich ab, verweigern die Antwort. Viele von denen, die auf die Bänke gestiegen sind, steigen wieder herunter.

Die Angeklagte hat sich gesetzt, ihr Oberkörper pendelt beständig hin und her, ihr Kopf ist gesenkt und ihre Hände sind hinter dem Rücken gekreuzt, als wäre sie schon gefesselt.

Der Gerichtsschreiber liest der Angeklagten das Urteil vor.

Der Vorsitzende erteilt dem Staatsanwalt das Wort, der die Anwendung des Gesetzes verlangt.

Mit einer Stimme, die nichts mehr von dem scharfen, ironischen Tonfall des alten Richters hat, fragt der Vorsitzende die Verurteilte, ob sie hinsichtlich ihrer Strafe etwas zu bemerken hätte.

Die Verurteilte hat sich wieder gesetzt. Ihre Zunge sucht in dem ausgetrockneten Mund nach Speichel, und ein unterdrücktes Schluchzen läßt ihre Nasenflügel zittern. Ihr Körper pendelt noch immer hin und her, ihre Hände sind noch immer auf dem Rücken, und sie scheint die Worte des Vorsitzenden nicht recht zu verstehen.

Da erhebt sich der Gerichtshof, die Richter stecken die Köpfe zusammen, und während einiger Sekunden werden unter dem Zunicken der blassen Stirnen leise Worte gewechselt. Dann öffnet der Vorsitzende das vor ihm liegende Gesetzbuch und liest mit dumpfer Stimme:

»Der Vollzug der Todesstrafe erfolgt durch Enthauptung.«

Bei diesem Wort springt die Verurteilte im Taumel ihrer Erregung vor, aus ihrem verzerrten Mund drängen sich irre Worte, zwischen ihren zuckenden Fingern wird ihr Hut zu einem unförmlichen Fetzen – plötzlich nimmt sie ihn vors Gesicht – schneutzt sich in das formlose Ding – fällt ohne ein Wort zu sagen auf die Bank zurück und schlingt ihre beiden Hände um den Nacken, den sie mechanisch festhält, als schauderte sie vor dem Beil der Guillotine.


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