Edmond de Goncourt
Die Dirne Elisa
Edmond de Goncourt

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XV.

Auf das Weib aus dem Volke, das mit knapper Not lesen kann, übt die Lektüre das gleiche Entzücken aus, wie auf ein Kind. Für Halbgebildete ohne Kritik und Hemmung, denen das Außergewöhnliche der Bücher einen ungeahnten Genuß bereitet, hat besonders der Roman einen geradezu magischen Reiz. Er nimmt das Denken der Leserin augenblicklich ein und läßt sie ganz in den Phantasiegestalten des Buches aufgehen. Er erfüllt und erhitzt ihren Kopf. Je plumper das Abenteuer, je unwahrscheinlicher die Fabel, je mangelhafter die Kunst und die Wahrheit und je verlogener die Schilderung der Menschheit, desto größer ist die Gewalt des Romans auf solche Frauen. Ihre Einbildungskraft fällt regelmäßig den Phantastereien zum Opfer, die über dem trivialen eigenen Leben schweben und sich in den exaltierten Regionen falscher Gefühle des Heldenmutes, der Entsagung, der Opferwilligkeit und der Keuschheit ergehen. Nicht ohne Absicht sage ich die Keuschheit. Denn gerade bei der Prostituierten hat die medizinische Wissenschaft Reinheit der Träume und ein gewisses unbewußtes Streben nach reiner, keuscher Liebe festgestellt.

Der Roman! Wer vermag seine Zauberkraft zu erklären? Der Titel kündigt uns an, daß wir eine Lüge lesen werden, und schon nach wenigen Seiten täuscht uns die gedruckte Lüge vor, daß alles Wirklichkeit sei. Wir schenken unser Interesse, unsere Rührung, unsere Ergriffenheit, ja bisweilen unsere Tränen einem Menschenschicksal, von dem wir wissen, daß es nie existiert hat. Wenn selbst wir uns solchermaßen täuschen lassen, wie sollte es die arglose, ungebildete Frau aus dem Volke nicht werden? Wie sollte sie sich nicht mit vollkommenerem, naiverem Glauben dem Buche hingeben, mit dem Glauben des Kindes, das kein Buch lesen kann, ohne ganz darin aufzugehen und in ihm zu leben. Sie wird durch das Ineinanderfließen ihrer unausgegorenen Empfindungen und den Dingen, von denen sie liest, unwillkürlich veranlaßt, die imaginäre Person des Romans an ihre Stelle zu setzen, ihre eigene elende und prosaische Individualität abzustreifen und in die poetische und romantische Hülle der Heldin zu schlüpfen, die in ihr zu Fleisch und Blut wird und noch lange zu leben fortfährt, nachdem das Buch ausgelesen ist. Glücklich, ein Mittel gefunden zu haben, um aus dem grauen und trübseligen Alltag zu entfliehen, stürzt sie sich in das bewegte Leben jener Fabelwesen. Sie liebt, sie kämpft, sie triumphiert über ihre Feinde, wie die Kartenaufschlägerinnen sagen. Sie erlebt jetzt in einem Sinnentaumel, im Rausch ihres Gehirns die Abenteuer ihrer Schmöker.

Die Leihbibliothek von Bourlemont, an die Elisa geraten war, bot just das, was sie brauchte. Das Geschäft des Bücherverleihens betrieb ein kleiner Vorstadtkrämer, der hauptsächlich mit Almanachen und Näschereien handelte. Einige hundert kleine Bände, die in ihren Ledereinbänden den Heiligenbücheln glichen, bildeten eine zufällig zusammengewürfelte, ganz eigentümliche Sammlung von Romanen, die während der griechischen Insurrektion vom Jahre 1821 in Frankreich erschienen waren. Es waren das in den barocken Märchenzauber des Orients gehüllte Helden- und Abenteuerromane. Da wimmelte es von griechischen Gefangenen, die sich dem gewalttätigen Pascha widersetzten, gefährliche Kämpfe in unterirdischen Gängen wechselten mit Brandstiftungen, Gefangennahmen, Fluchtversuchen, Befreiungen, und der Schluß war immer wieder die gesetzliche Vereinigung der Liebenden durch den Bürgermeister von Sparta oder von Argos. Mit einem Wort, die ganze Epik des Boulevards der Verbrecher, die ganze falsche Ritterlichkeit und Liebesduselei, die es fertig bringt, die Ideen eines Mädchens, das sich in einer kleinen häßlichen Provinzstadt durch ihre Liebschaften kümmerlich ihr Brot verdient, in den siebenten Himmel zu heben. Unter diesen Romanen befanden sich auch andere Bücher, die die religiöse Bewegung der Restauration hervorgebracht hatte und die in den Beilagen des »Wegweisers von Paris nach Jerusalem« neukatholische Ideen nach Judäa verschleppten, Romane, in denen fromme Pilgerfahrten auf der Suche nach der mystischen Rose im Tale Josaphat mit frommen Legenden, mit mineralogischen Aufsätzen, mit Räubergeschichten und platonischen Liebschaften gemischt waren.

Das Lesen war bei Elisa zur Wut, zur Krankheit geworden. Sie tat nichts anderes mehr. Ihr Körper und ihr Geist waren abwesend, sie lebte, im Rahmen ihrer beschränkten Ideale, in einer wirren und verklärten Ergriffenheit, in einem beständigen wachen Traum, der ihr große und edle Taten vorgaukelte, und brachte im Geiste gerade dem eine Huldigung dar, was ihr Beruf ihr zu jeder Stunde zu entweihen gebot.


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