Edmond de Goncourt
Die Dirne Elisa
Edmond de Goncourt

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LI.

Seit ihrer Flucht aus La Chapelle hatte Elisa ihre Mutter nicht wiedergesehen oder vielmehr einmal, ein einziges Mal hatte sie sie aus der Ferne wiedergesehen, als nämlich die Mutter der Mörderin vor den Geschwornen als Zeugin vorgeladen war. Man weiß, daß die Tochter an dieser Mutter, die für sie während ihrer ganzen Kindheit nur Furcht und Plage bedeutet hatte, keine besondere Zärtlichkeit empfand, dennoch war in der Einsamkeit der lebenslänglich Verurteilten ein letzter Rest von Liebe übrig geblieben, der in jedem menschlichen Herzen schlummert und sich der alten Frau zugewendet hatte. Elisa hätte gern Nachrichten von ihr gehabt. Einigemal hatte sie ihr geschrieben, aber die Briefe an ihre Mutter waren ebenso unbeantwortet geblieben wie all die andern. Wie groß war daher ihr Erstaunen, als man der Gefangenen eines Tages meldete, daß ihre Mutter sie im Sprechzimmer erwarte.

Das Sprechzimmer des Zentralgefängnisses besteht aus drei Käfigen oder vielmehr aus drei großen, durch Eisengitter getrennten Kammern. In die zur Rechten werden die Besucher geführt, in der mittleren sitzt eine Schwester auf einem Rohrsessel mit einer Garnspule in den Händen und in der zur Linken befindet sich die Gefangene. Kein Kuß, kein Händedruck. Vertrauliche Worte, Geständnisse, Herzensergüsse, all das wird durch die Gegenwart der unbeweglichen und eisigen Wächterin erstickt. Die Blicke sind durch einen breiten Raum getrennt und durch das doppelte Eisengitter gebrochen. Die Begegnung hier, das Glück sich wiederzusehen, sich wiederzufinden, kann durch keine Liebkosung, durch keine Zärtlichkeit, durch keinen Kuß der Lippen bezeugt werden, die sich auf das teure Antlitz des Freundes oder der Verwandten pressen.

Ja, es war ihre Mutter! Die ruhelosen Mühen des Lebens hatten in die noch immer schönen Gesichtszüge eine unversöhnliche Härte eingegraben. Man hätte sie für eine Sibylle in dem Kittel eines Marktweibes halten können.

Neben ihr stand ein kleines Mädchen.

»Wahrhaftig, du siehst ganz gut aus – du bist geradezu dick geworden! – Das freut mich wirklich, wenn du mir auch durch deine Dummheiten im Geschäft geschadet hast.«

Elisas Mutter unterbrach sich, um der Kleinen, die ihr Gesicht in ihren Rockfalten versteckte, zuzurufen:

»Na, du Gänschen, wovor fürchtest du dich denn, hab' ich dir denn nicht gesagt, daß das deine Schwester ist?«

»Ja, die Kleine hab' ich nach dir bekommen«, fuhr sie fort und erhob ihren Kopf wieder gegen Elisa. »Du bist mir doch nicht böse, daß ich dir nicht geantwortet habe, was? Du weißt, das Briefschreiben war von jeher meine schwache Seite.« Darauf wühlte sie in ihrer Tasche herum, in der allerhand Gegenstände klapperten, zog einen Tabaksbeutel hervor und nahm nach der Gewohnheit der alten Hebammen eine Prise.

»Also, laß dir sagen, ich hab' kein Glück in meinem Viertel. An jedem Tag, den Gott werden läßt, habe ich Ärger und Sorgen. Nun hat mir eine Frau, die einmal bei mir in Pflege war, gelegentlich gesagt, daß man's in Amerika drüben nicht so genau nimmt wie hier. Verstehst du mich, Mädel?«

Elisa verstand. Sie erriet, daß ihre Mutter wieder einige Abtreibungen vorgenommen hatte, und daß womöglich gegen sie irgend welche Untersuchungen im Gange waren.

»Da hab' ich den ganzen Kram satt bekommen und hab' alles zu Geld gemacht. Meine armen Betten! Kannst du dich noch erinnern, das aus dem gelben Zimmer. Ist mir teuer genug zu stehen gekommen, damals! Ja, alles habe ich verklopft, alles verkauft, aber ich hab' noch immer nicht genug Geld beisammen für die weite Reise. Da hab' ich mir nun gesagt, das Mädel hat ein gutes Herz, und schließlich, was kann sie schon mit ihrem Gelde anfangen, da sie ja doch keines mehr brauchen wird.«

Elisa sah ihre Mutter mit schmerzerfüllten Augen an. Im ersten Augenblick hatte sie wirklich geglaubt, ihre Mutter sei gekommen, um sie zu sehen; nun aber merkte sie, daß sie nichts anderes wollte, als ihr die paar armseligen Groschen herauszureißen, die sie im Gefängnis zusammengespart hatte.

»Nun, du sagst nichts – du schlägst es deiner Mutter ab – ein Kind, Schwester, für das ich mich zu Tode geschunden habe.«

»Die sechs Francs für meinen Sarg, wenn alles vorbei ist, ich will den andern keine Auslagen machen. Mehr brauch' ich nicht, was übrig bleibt, werd' ich dir schicken, Mutter.«

Nachdem sie das langsam sagte, erhob sie sich mit einer raschen Bewegung von ihrer Bank, um dem Besuch ein Ende zu machen.

»Ah, du bist doch ein gutes Mädel!« rief ihre Mutter erfreut. »Ich sag' es noch einmal, wie ich es an dem Unglückstag den Geschwornen gesagt habe, die mein Kind zum Tode verurteilt haben, sie ist ein bißchen verrückt, aber sie hat im Grund doch ein goldenes Herz.«

Und sie gab der Kleinen, die ihren Kopf wieder in ihre Rockfalten versteckt hatte, eine Ohrfeige.

»Vorwärts, Liebling, mach' deiner guten Schwester einen schönen Diener!«

Als Elisa wieder den Arbeitssaal betrat, war sie sehr blaß. Die Jahre hatten ihr außer den Härten des Gefängnislebens keine Leiden auferlegt. Sie glaubte sich fühllos. Dieser Besuch aber erfüllte sie im Grunde ihres Herzens mit neuem Kummer.


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