Edmond de Goncourt
Die Dirne Elisa
Edmond de Goncourt

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LXV.

Vor Jahren brachte ich einige Wochen auf einem Schloß in der Umgebung von Noirlieu zu. An einem müßigen Tage beschloß die Gesellschaft aus Neugierde, das Frauenstrafhaus zu besuchen. Man bestieg den Wagen. Es war an einem traurigen Herbsttag. Unter dem grauen, von schwarzen Wolken durchzogenen Himmel schleppte sich durch die kahle Heide der farblose Fluß dahin, der in einen schweren Wolkenhorizont untertauchte. Es war eine Landschaft, deren düstere Eintönigkeit, deren dunkle Färbung gleichsam ein Stück des finsteren, alten Galliens wieder aufleben ließ, und vor unseren Augen erstand das Bild der katalaunischen Felder, wie unser heutiges Denken sie sich zu der Zeit der Völkerschlachten ausmalt.

Nach ziemlich langer Fahrt tauchte in einer frostigen Walddichtung Noirlieu vor uns auf, mit seiner doppelten Promenade auf den alten Basteien, seinem bis zum Fuße der Hügel reichenden Friedhof, dem Rondeau mit den starrenden Ulmen, der großen Mauer des Strafhauses, an das sich rechter Hand eine Besserungsanstalt für Jugendliche, und linker Hand die Irrenanstalt anschließt.

Wir stiegen beim Unterpräfekten ab, den wir vom Schlosse her kannten. Man führte uns in einen kleinen Salon, der mit Lithographien von Félon ausgeschmückt war, die in Palisanderrahmen an den Wänden hingen. Unter einer Jagdtrophäe, über der ein Tirolerhut angebracht war, lag auf dem offenen Klavier eine Romanze von Nadaud aufgeschlagen.

Einige Augenblicke später trat der Unterpräfekt ein. Er war ein Spaßvogel von einem Unterpräfekten. »Alles sehr bequem bei uns eingeteilt«, rief er mit dem Tonfall eines Komikers vom Palais Royal, während er gleichzeitig seine Unterschrift auf einen Akt setzte – »sehr bequem, wahrhaftig: das Narrenhaus gleich neben dem Gefängnis, die Überführung ist eine Spielerei ...« Dann knöpfte er seine perlengrauen Handschuhe zu und reichte mit der affektierten Grazie eines Tänzers, der seinen Rang durch Ballarrangement errungen hat, einer unserer Damen den Arm.

Der Besuch im Frauengefängnis war ein sehr gründlicher und wurde durch die Aperçus des Führers in angenehmer Weise erheitert. Wir waren im Begriff, das Strafhaus zu verlassen, als der Direktor den Unterpräfekten bestimmte, uns auch noch das Lazarett zu zeigen.

Wir betraten den Saal, in welchem etwa ein Dutzend Betten standen.

»Vier Prozent Sterblichkeit, meine Herren, nur vier Prozent«, sagte hinter unserem Rücken der kleine Direktor in seiner munteren Art.

Ich war vor einem Bett stehen geblieben, in welchem eine Frau in jener schrecklichen Unbeweglichkeit lag, wie sie die Rückenmarksleiden mit sich bringen. Über ihrem Kopf war die Gefängnisnummer an der Wand zu lesen, umgeben von geweihten Ölzweigen. An dem Kopfende des Bettes stand ein Mädchen, eine andere Gefangene, die in ihrem Büßergewand das Schweigen zu verkörpern schien, das den Tod verkündet.

»Die da, das ist eine Lebenslängliche – die Elisa – eine Prostituierte – eine Mordaffäre, die seinerzeit viel Staub aufgewirbelt hat.« Und die melodische, leicht zischelnde Stimme des Direktors fügte sogleich dazu: »Nur vier Prozent Sterblichkeit.«

Ich betrachtete aufmerksam die Frau mit dem versteinerten Gesicht und den blinden Augen, mit diesem Mund, der das einzig Lebende in dem Gesicht zu sein schien, dessen Lippen gleichsam geschwollen waren von zurückgehaltenen Worten. Sie schien sprechen zu wollen und es nicht zu wagen.

»Aber meine Herren«, rief ich aus, während meine Stimme unwillkürlich zornig zitterte, »gestatten Sie denn Ihren Gefangenen selbst im Todeskampfe nicht zu sprechen?«

»Oh, mein Herr! – Nicht wahr, lieber Direktor, davon kann keine Rede sein. – Wir sind voll menschlichem Verständnis!« sagte der Unterpräfekt leichten Tones und dann wandte er sich zu der Sterbenden: »Sprechen Sie nur, gute Frau, sagen Sie nur, was Sie wollen!«

Die Erlaubnis kam zu spät. Selbst die Unterpräfekten haben nicht die Macht, den Toten die Sprache wiederzugeben.


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