Edmond de Goncourt
Die Dirne Elisa
Edmond de Goncourt

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XLIX.

Eine Woche lang las Elisa den Brief in jeder Nacht, später aber nahm sie ihn nur noch dann und wann hervor. Schließlich vergaß die Gefangene das mit Blut geschriebene Stück Papier in ihrer Matratze. Und nach einigen Monaten nahm sie eines Nachts den Liebesbrief aus seinem Versteck, diesmal ohne ihn zu küssen, wie sie es sonst immer zu tun pflegte, bevor sie ihn las. Fast eine Viertelstunde lang drehte sie ihn zwischen ihren Fingern. Ein innerer Kampf schien ihr Inneres zu bewegen und langsam zerriß sie ihn in kleine Fetzen, in ganz kleine Stückchen, als fände sie Gefallen an dieser Vernichtung.

In dem Nichts, in der Leere dieses eingekerkerten Herzens war ein leidenschaftliches Bedürfnis nach Zärtlichkeit in Elisa erwacht und hatte die Erinnerung an ihren Schatz wieder aufleben lassen. Die Vergangenheit ihrer Liebe war wieder vor ihr aufgetaucht, die Erinnerung an die wenigen glücklichen Stunden, die ihr das Leben vergönnte. Nur wenige Stunden hatte ihr Glück gedauert, dann war es vorbei. Das Bild ihres Geliebten, das sie sich in der Erinnerung zurückrief, wie oft war es vor ihren geistigen Augen aufgetaucht, mit seinem gutmütigen Gesicht, seinen verliebten Augen, seinen zärtlichen Gesten, mit allem, was sie an diesen geliebten Mann gefesselt harte. Und dann führten sie ihre Gedanken nach dem Friedhof von Auteuil, und sie sah den Ermordeten vor sich, mit diesem merkwürdigen, fremden Lächeln auf dem Gesicht, das die Agonie heraufbeschworen hatte. Und wie Menschen, die ein teures Wesen verloren haben, das in Wahnsinn verfallen ist und das ihnen in der Erinnerung nur in den verzerrten Gesichtszügen der Raserei und der entstellten Menschenwürde erscheint, die Nacht anflehen, das trostlose Bild aus ihren Augen zu bannen, so stieß jetzt Elisa das Bild des Geliebten zurück, das ihr nach und nach immer quälender und verhaßter geworden war. Ja, es kam der Tag, an dem Elisa die Erinnerung an den Toten verfluchte, die sie trotz aller Anstrengungen doch nicht ganz aus ihrem Gehirn zu verbannen vermochte. Die Erinnerung an diesen Toten, der im Grunde ja doch die Ursache ihres ganzen Unglücks gewesen war; und mit aller Energie riß sie die Erinnerung an den Geliebten aus ihrem Herzen und erdrückte erbarmungslos alle Rührung, alles Bedauern, alle Gewissensbisse, bis sie hart und fühllos geworden war wie ein Stein.


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