Edmond de Goncourt
Die Dirne Elisa
Edmond de Goncourt

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LXII.

In der Schusterwerkstatt sank Elisa allmählich von einer Stufe des Menschentums zur anderen und wurde langsam vom intelligenten Geschöpf zum stumpfen Tier. Das Einsäumen der karierten Taschentücher brachte sie schon nach kurzer Zeit nicht mehr zusammen und man stellte sie zum Lumpenausklauben an. Schließlich sah man ein, daß sie zu keinerlei Arbeit mehr fähig war, und sie verbrachte ihre Tage in stumpfer Versunkenheit, in der sie unverständliche Laute vor sich hinbrummte.

Das Gehirn dieser Vierzigjährigen war vollkommen infantil geworden. Eindrücke, wie sie erwachsene Personen empfangen und im Gehirn verarbeiten, gingen an ihr vorüber. Sie erlebte und genoß ohne Vorurteil die kleinen Freuden eines vierjährigen Kindes. Wenn sie ein neues Kopftuch bekam, so konnte man beobachten, wie sie immer wieder ganz glücklich mit der Hand darüberstrich, wie ihre Lippen sich bemühten, Worte zu hauchen: »Schön – schön – das!« Hatte eine wohltätige Dame der Stadt in einem Jahr reicher Ernte den Sträflingen einen Korb voll Obst geschickt, so klatschte Elisa in die Hände und betrachtete mit gierigen Augen und lüsternen Lippen die paar Pflaumen, die man ihr auf den Teller gelegt.

Während dieser Zeit des fortschreitenden Verfalls vollzog sich in Elisas Gedächtnis ein merkwürdiges Phänomen. Tag für Tag bröckelten von den Erinnerungen an ihr ehemaliges Dasein Bruchstücke ab und versanken in der Finsternis, bis gleichsam ihre ganze Vergangenheit von ihr abfiel und sich ihr Denken im leeren Raum verlor. Elisa hatte ihr Leben in La Chapelle, ihr Leben in Bourlemont, in der Avenue de Suffren, ihr Gefängnisleben, ihr Leben von vorgestern, von gestern, vergessen. Je mehr aber die näheren Erinnerungen aus ihrem Kopf entschwanden, desto deutlicher wurden die fernen Eindrücke der frühesten Kindheit, die sie in einem Vogesendorf bei einer Schwester ihrer Mutter verbracht hatte. Und wie es bisweilen in der Agonie der Fall ist, so zog die Erinnerung an die Beschäftigungen, die Freuden und Spiele der Kindheit mit ihrer Ausgelassenheit und jubelnden Fröhlichkeit an dieser zerbrochenen, alternden Frau vorbei.


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