Edmond de Goncourt
Die Dirne Elisa
Edmond de Goncourt

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LXIV.

Aus ihren Kindertagen, die jetzt ihr ganzes Denken erfüllten, trat eine Erinnerung immer wieder hervor. Immer wieder erinnerte sie sich des heiteren Frühlings in ihrem Heimatsdorfe. Seit die Erkenntnis der gegenwärtigen Umgebung bei der Kranken von Tag zu Tag mehr verblaßte, blühten die Kirschbäume ihrer Heimat in ewigem Frühling in ihren Gedanken.

Schon bei der Morgenandacht in der Gefängniskirche befand sich Elisa auf dem Wege durch den Blütenzauber der Landschaft, in der sie ihre ersten Schritte getan.

Schon lief sie über die blühende Erde, die ganz mit Margueriten besät war. Sie sah den morgenblauen Himmel über sich, der wie von Silberfäden durchsponnen war und rings um sich die weißblühenden Büsche und Sträucher. Sie schritt weiter unter dem Laubdach der Bäume, in dem es von kleinen Vögeln wimmelte und es schien ihr mitten im Blühen des Frühlings, als sei sie im Himmel. Lächelnd schritt sie durch die leuchtende Landschaft, und von allen Zweigen fiel ein Regen von Blütenblättern auf sie nieder, die langsam niederflatterten wie kleine, leichtbeschwingte Schmetterlinge.

Zur Mittagstunde lag sie auf der Erde, die blühenden Baumwipfel warfen leichte Schatten, der süße Duft sonndurchglühter Blüten und das Singen und Zwitschern der Vögel erfüllte die Luft. In seliger Unbeweglichkeit lag sie da und war glückselig über diesen unaufhörlichen Blütenregen, der auf sie herabfiel, auf Hals und Gesicht, auf die nackten Arme und Beine. Manchmal, wenn die Blüten über ihrem Köpfchen dahinflatterten und ein leiser Windhauch sie erfaßte, streckte sie die Ärmchen danach aus, um sie einzufangen. So verbrachte sie ganze Tage, bis sie von Blüten eingeschneit war und unter ihnen begraben lag.

So lebhaft waren die Illusionen der armen Kranken, daß man sie oft beobachten konnte, wie sie mit den steifen Fingern einer halbgelähmten Hand unbeholfen Kreise beschrieb durch die stinkende Luft der Schusterwerkstatt, um den Blütenregen der Kirschbäume ihres Heimattales aufzufangen.


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