Edmond de Goncourt
Die Dirne Elisa
Edmond de Goncourt

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XLVIII.

Der Friedhof! Der Friedhof, der kein Friedhof mehr war. Es schien ihr, als lese sie noch auf dem abbröckelnden Kalkbewurf des Tores die Worte »Alter Boulogner Friedhof«, und alle Wegkrümmungen des kleinen unbekannten Wäldchens, das nur am Sonntag geöffnet war, erstanden wieder vor ihren Augen.

Zuerst hatte sie den ganzen verwilderten Garten abgehen wollen, wie man einen unbekannten Ort abgeht, von dem man sich angezogen fühlt, und war in die verborgensten Winkel vorgedrungen, über alte überwucherte Wege und die kleinen Hügel, die wuchernde Rosensträucher versperrten und mit ihren wilden Trieben und mörderischen Dornen gegen den Eindringling verteidigten.

Aber an das Gehen nicht gewohnt, war sie bald müde geworden und hatte sich auf einem kleinen Grashügel niedergelassen, unter dem ein Kindlein schlief, auf einer kleinen, grünen, mit Margueriten übersäten Grasbank.

Sie war ganz erfüllt von einem stillen und reinen Glück, in das die Gegenwart des Todes, der durch die Zahl der Jahre seine Schrecken schon verloren hatte, ein unbestimmtes Gefühl von Nachdenklichkeit hineinwob.

Er! Schweigsam hatte er sich zu ihren Füßen niedergelassen und seinen Kopf in das kühle, frische Gras gelegt. Durch ihr Kleid fühlte sie das Glühen seiner Wangen.

Unwillkürlich war sie aufgestanden und wollte gegen das Tor zugehen. Aber er zwang sie, sich ein paar Schritte weiter wieder niederzusetzen, auf einem ausgegrabenen Steinblock, den die langen Zweige der Trauerweiden überschatteten.

– »Nein! Nein!«

Wieder sprang Elisa auf und wollte sich neuerlich dem Ausgang des Friedhofs zuwenden.

Sie hatte das unbestimmte Gefühl, daß ein Unglück bevorstünde, und doch wollten ihre Füße nicht recht vom Fleck.

Mit kleinen Schritten ging sie dahin und hatte beim Gehen das Messer aus der Tasche gezogen, um die Dornen von den Rosenzweigen zu entfernen, die sie in ihren Feldblumenstrauß einflocht.

So war sie bis in eine Ecke des Friedhofs gekommen, wo das halbverfallene Häuschen des ehemaligen Aufsehers stand und der Boden wellenförmige Unregelmäßigkeiten aufwies.

Zwei oder drei Personen, die zufällig eintraten, gingen wieder hinaus, nachdem sie einen Blick auf die kleine verlassene Wildnis geworfen hatten.

Da legte er sich in eine der Bodenwellen nieder, als wollte er ein wenig schlafen. Sie setzte sich an seiner Seite nieder.

Und während sie ihren Blumenstrauß band und das Messer von einer Hand in die andere gleiten ließ, schloß sie mit der freien Hand, zärtlich wie eine Mutter, die das Antlitz ihres Kindes streichelt, die glühenden Augen ihres Liebsten und flüsterte:

»Schlafe!«

Da auf einmal fühlte sie sich, ohne ein Wort, ohne einen Laut, brutal ergriffen und mit tierischer Wildheit vergewaltigt und in der wilden Anstrengung, die sie machte, um sich dieser schmerzhaften und wütenden Umarmung zu entziehen, hatte sie die Empfindung, von den zwei Händen, die sich um ihren Hals schlangen, geohrfeigt zu werden.

»Laß mich, mir wird rot vor den Augen!« schrie Elisa, hoch aufgerichtet, das Messer in der Hand, und der kurze Kampf hatte in ihrem Hirn die ganze männermordende Wut der Prostituierten ausgelöst.

Ah! Sie erinnerte sich nur zu gut an diesen Augenblick. Die Aprilsonne sendete glühende Strahlen hernieder – die Luft war voll vom Gesumme der Bienen – ein süßer Geruch, gleich dem der heimatlich blühenden Kirschbäume entstieg den Sträuchern, die die Gräber überwucherten – an den Bäumen waren noch keine Blätter, aber die Knospen glänzten zum Platzen geschwellt, – und mitten in all dieser Schönheit sah sie das Gesicht ihres Liebsten vor sich, auf dem ein tierisches und ganz merkwürdiges Lächeln lag.

Das alles hatte nur einen Augenblick, nur eine kurze Sekunde gedauert, und dann war er auf sie gestürzt, auf das Messer und war verwundet in die Knie gesunken, während er mit seinen ermatteten Armen noch immer versuchte, sie zu umschlingen und zu umfassen.

Ja, so war es wohl geschehen – aber die anderen Messerstiche – Ach, ja! Als sie das Blut gesehen hatte – wie seltsam – da war es wie ein Taumel über sie gekommen, der Wunsch zu töten, die Wut zu morden hatte sie erfaßt – und sie hatte blindlings vier-, fünfmal zugestoßen – und dabei wie eine Wahnsinnige dem Gemordeten zugerufen:

»So halte mich doch, halte mich doch!«

Warum eigentlich hatte sie das alles niemanden, nicht einmal ihrem Verteidiger anvertraut? – Nun, es war ja nicht so interessant – und dann! Sie! Die Letzte der Letzten! Sie, das am Polizeiamt und in allen Provinzhäusern eingetragene Freimädel, sie hätte jemand sagen sollen, daß sie ihn plötzlich hatte lieben wollen wie ein junges unschuldiges Mädchen – nein, sie hätte es nicht über die Lippen gebracht – man hätte zu sehr über sie gelacht – und sie wäre ja trotzdem verurteilt worden, da sie gemordet hatte – aber wenigstens hätte man vielleicht nicht geglaubt, daß sie es wegen der siebzehn Francs getan hatte, die man nicht mehr bei ihm gefunden.

Während sie in ihrem schmalen Bett über die geheimnisvollen, dunklen Triebe nachgrübelte, denen sie damals gehorcht hatte und von denen sie nichts verstand, fragte sie sich schließlich, warum sie denn der liebe Gott an diesem furchtbaren Tag so ganz und gar verlassen hatte?


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