Edmond de Goncourt
Die Dirne Elisa
Edmond de Goncourt

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II.

Wahrhaftig grauenvoll war das Leben der kleinen Elisa im Hause ihrer Mutter. Die Anstrengungen ihres Berufes, das ewige Treppauf-Treppab, die Visiten bei Tag und Nacht und bei jedem Wetter, das Gott werden ließ, die Nachtwachen, die schlaflosen Nächte, der Aufenthalt in ungeheizten Wohnungen, die Plagen und ewigen Hetzjagden, die oft über ihre Kräfte gingen, das alles versetzte die Hebamme beständig in schlechte Laune und gereizte, brummige Stimmung, wie es gewöhnlich bei Leuten ist, die unter dem Joch harter Arbeit leben. Um bei Kräften zu bleiben, nahm sie reichliche Nahrung zu sich und trank oft über den Durst, und dann setzte es gewöhnlich Ohrfeigen. Manchmal auch entlud sich in einem solchen Klaps ihre Wut und ihr Mitleid über das Elend, das sie so oft zu sehen bekam, jenes furchtbare, erbärmliche Elend, wie es nur die Großstädte in sich bergen. Dann kam sie nach Hause, fegte daher wie der Sturmwind und schrie: »Ja! Kinderchen! Ein paar windschiefe Bretter, das sind die Wände, gestampfter Lehm als Fußboden darauf, für Mann und Frau ein Haufen Sägespäne und darum – grad' so wie um einen Sarg – vier Bretter, damit die Kinder nichts sehen. – Nicht weniger als sieben solche Bälge auf zwei gottverfluchten Strohsäcken, drei liegen oben und drei unten und sie können nicht einmal recht ihre kleinen Beine ausstrecken, weil der Korb mit dem Jüngsten ihnen im Weg steht, und sonst nichts in der ganzen Bude. Ein Kamm, eine Flasche und auf einem wackligen Tisch eine Brotrinde, von der alle Augenblicke eine Ratte, groß wie eine Katze, einen Brocken abbeißt. Mir graut noch jetzt davor. Das sind die Baracken von St. Lazare, wißt ihr, dort draußen, wo die vielen alten Häuser standen, die man jetzt niedergerissen hat. Und zu allem Überfluß wohnt daneben ein kleiner Savoyarde mit seinem Affen; und dieses verfluchte Luder fängt an zu winseln und zu stöhnen und mit allen Höllenkünsten dieser tierischen Hanswurste die Schmerzensrufe der Gebärenden nachzuahmen. Und zu guter Letzt pißt er noch durch eine Spalte in der Bretterwand auf die süßen Knirpse – Als Windel, wenn man das Windel nennen kann, mußt' ich mein eigenes Taschentuch verwenden, und als es hieß, das Neugeborene zu waschen, war zum Wärmen des Wassers nichts anderes da als ein Büschel Stroh aus der Matratze.«

Gewöhnlich aber hatten die Wutausbrüche der Mutter Elisas einen anderen Grund. Die Entbindungen im Wöchnerinnenheim zu acht Franken, die Entbindungen zu Hause zu fünfzig Franken, die neuntägige Verpflegung inbegriffen, deckten nicht immer die eigenen Selbstkosten. Fast jeden Monat kam es vor, daß der Gerichtsvollzieher mit gewöhnlich schon prolongierten Wechseln ins Haus kam, daß der Fleischhauer, der Gemüsehändler und der Kohlenhändler den Kredit verweigerten. In solchen Zeiten der ärgsten Kalamität konnte der Hausmeister dann und wann ein junges Mädchen bleich und mit schwankenden Schritten die Treppe herabsteigen sehen, das ein paar Stunden früher zur Hebamme hinaufgegangen war, und mit diesen Besuchen fingen auch für die unglückliche Frau die Tage der Angst und der Sorge an, die Tage, wo sie vor dem Verbrechen zitterte, wo sie in jedem Blick, der sie streifte, einen Argwohn zu sehen glaubte; wo sie, wenn beim Vorübergehen von ihr die Rede war, eine Denunziation fürchtete, wo ihr bei einem Brief, den man ihr brachte, die Hände zitterten, wie bei der Todesnachricht einer von ihr »Behandelten«, Tage, wo sie jedesmal, so oft die Glocke schrillte, den Polizeikommissär eintreten zu sehen fürchtete. Um diese quälenden Gedanken, die sie unausgesetzt beunruhigten, wenigstens für ein paar Stunden los zu werden, trank sie und wenn sie dann sinnlos betrunken war, so bedeutete das für die kleine Elisa jedesmal eine Tracht Prügel.

Aber Elisa hatte vor diesen Prügeln weniger Angst als vor den Nächten, die sie mit ihrer Mutter zubringen mußte! Wenn nämlich in der ganzen armseligen Wohnung alle Räume und sogar ihr eigenes Bett mit Wöchnerinnen belegt waren, schlief sie im Bett ihrer Tochter. Das Alpdrücken, das sie plagte, das Auffahren aus entsetzlichen Träumen, die Schreckensrufe, die sie ausstieß, der unruhige Schlaf des bösen Gewissens ließen dann das junge Mädchen die ganze Nacht nicht zur Ruhe kommen und an ihre erschreckten Ohren drangen grauenvolle Einzelheiten von Todeskämpfen sterbender junger Frauen, die die Schlafende ausstieß. Nach solchen Nächten erhob sich Elisa halb erstickt durch den fettleibigen Körper ihrer Mutter, der sich an ihren schlanken Leib anklammerte, als fürchtete die Hebamme, von der unsichtbaren Hand der Gerechtigkeit aus dem Bett gezerrt zu werden, und ein furchtbares Grauen vor der eigenen Mutter blieb in dem Herzen des Kindes zurück.


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