Edmond de Goncourt
Die Dirne Elisa
Edmond de Goncourt

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Zweites Buch

XXXV.

Mitten durch eine Menschenmenge von Männern, Frauen und Kindern, die im Augenblick auf dem Bahnhof zusammengelaufen war, hatte der Munizipalgardist die Dirne Elisa zu dem Waggon geführt, der die Aufschrift trug: Gefängnisdienst. Diese Menschenmenge, einen kleinen Vogel, der beim Öffnen der Wagentüre vom Dache flog, die auf die Wand des Waggons gemalten Fenstergitter, das war alles, was die Augen der Verurteilten in verschwommenen Bildern sahen.


Sie war also wirklich hier. – Begnadigt. Die Guillotine würde ihr den Hals nicht abschneiden. Ihr Körper sollte nicht, in zwei Stücke geschnitten, in die kalte Erde gesenkt werden, die sie mit Schnee bedeckt vor sich sah. Die Neugierigen, die morgen früh nach dem Platz von La Roquette zogen, um ihre Hinrichtung zu sehen, würden sie nicht aus dem Schlafe wecken ... Sie sollte leben! ...

»Ja, der Zug rollte dahin ... trug sie fort von dem Schauplatz des Todes. Man hatte ihr das Leben geschenkt. Was hatte man ihr im Gerichtssaal eigentlich gesagt ... Sie erinnerte sich nur an ein einziges, daß sie nicht sterben sollte ... Ah ! Nun dämmerte es ihr auf. Eine Glocke sollte eingeweiht werden in irgend einer Pfarre, und der Priester hatte aus diesem Anlaß ihre Begnadigung erbeten ... Sie sollte leben! Ah! Sie sollte leben!« Und sie brach in ein gellendes Lachen aus.

Ganz beschämt fuhr sie zusammen und durchforschte mit ihren Augen das Dunkel, das sie umgab. Als sie einstieg, hatte sie nicht darauf geachtet, ob noch andere Frauen in den Waggon eingestiegen waren. Sie war allein. Da lachte sie wieder zwei-, dreimal nervös auf, durchtobt von einer wilden Fröhlichkeit, die sie nicht zu unterdrücken vermochte und die immer wieder kam.

Allmählich wurde die Verurteilte wieder ernst und nach einigen Augenblicken flüsterte sie vor sich hin: »Von mir kann man wahrhaftig nicht sagen, daß ich unter einem glücklichen Stern geboren bin.«

Der Zug fuhr mit voller Geschwindigkeit und wurde in den Kurven stark geschleudert. Elisa war bei dem Rattern des finsteren Waggons in traumhafte Gedanken versunken, die dem düsteren Fiebertraum eines Schiffbrüchigen gleichen, der im dunklen Bauch eines gescheiterten Fahrzeugs unter den Wassern des Ozeans dahinrollt.

Ein Pfiff, der Name einer Station, den der Schaffner ausrief, schwere Schritte auf dem Sand draußen erwecken sie aus ihren düsteren Träumen.

Mit einemmal überkam Elisa die Lust, etwas zu sehen. Unter der Bank war ihr gegenüber in dem von Frost und Tau zermürbten Holz, ganz unten am Fußboden, eine kleine Spalte, durch die das Tageslicht eindrang. Sie warf sich platt auf den Boden nieder und legte ihr Auge an die Spalte. Ein Mann und eine Frau, um die eine Schar von Kindern hüpfte, gingen einen kleinen Feldweg entlang einem Hause zu, aus dessen Schornstein der Rauch aufstieg. Die Leute schritten vergnügt dahin und schienen froh, nach kurzer Abwesenheit wieder an den häuslichen Herd zurückzukehren.

Und der Zug fuhr weiter dahin, die Reise erschien ihr endlos, als sollte sie niemals das Ziel erreichen, obwohl sie ganz gut wußte, daß sie den Bahnhof vor nicht allzu langer Zeit verlassen.

Plötzlich fuhr sie auf, wie man sich fast erschrocken an eine Sache erinnert, die man beinahe vergessen hätte, und zog aus ihrem kleinen schwarzen Korb, in dem sie ihre Wäsche gepackt hatte, ein abgegriffenes Stück Papier, das sie in ihrem dichten Haar verbarg.

Immer wieder tönten Signalpfiffe, immer wieder wurden Stationsnamen ausgerufen, immer wieder hörte man das Ein- und Aussteigen der Reisenden.

Aber je näher die Verurteilte dem Ort ihrer Gefangenschaft kam, desto mehr schwand der Wunsch, ihn zu erreichen, und eine Art sinnloser Angst vor dem Unbekannten, das ihrer harrte, brachte ihr Herz zum Klopfen, wie das Herz eines kleinen zitternden Vogels, den man in der Hand hält.

»War das hier?« Sie glaubte sich zu erinnern, daß sie den Namen des Ortes, den der Kondukteur eben ausrief, im Gerichtssaal zu Paris gehört hatte. Unwillkürlich kauerte sie sich in ihrer Ecke zusammen wie ein Kind, das sich ganz klein macht vor irgend einem Drohenden, vor dem es sich ängstigt. »Nein, noch nicht, alle sind schon ausgestiegen ...« Man war gekommen, um sie zu holen.

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Eine harte Stimme hieß sie aussteigen.

Sie erhob sich und ihre dem Licht entwöhnten Augen, seit Tagen an das Düster der verurteilten Zelle gewöhnt, waren eine Weile von dem strahlenden Licht der Wintersonne wie geblendet, und da ihr Fuß zögernd die Stufen herabstieg, riß sie der Mann mit der harten Stimme ziemlich derb herunter.

In Paris hatte ihr das Geschrei der gestauten Menschenmenge, durch die sie hindurchgeschritten war, furchtbare Angst gemacht. »Die Mörderin, da ist sie, die Mörderin!« Nun fürchtete sie sich, auch hier auf dem Bahnhof wieder auf eine solche Menschenhorde zu stoßen. Aber niemand war da. Man hatte mit ihrer Überführung gewartet, bis sich der Bahnsteig geleert hatte.

Elisas Augen suchten den Wagen, der sie ins Gefängnis bringen sollte, als zwei blaugekleidete Männer auf sie zutraten und sie zwischen sich gehen ließen. Die Verwaltung sparte den Wagen, wenn es sich nur um den Transport von einer oder zwei Verurteilten handelte.

Sie ging zwischen ihren zwei schweigsamen Wächtern die Straßen der Vorstadt entlang. Die wenigen Menschen, die ihren Weg kreuzten, hoben nicht einmal den Kopf, so sehr war man in Noirlieu daran gewöhnt, einem Gefangenentransport zu begegnen.

Es ging eine Straße entlang, die zwischen Gärten aufstieg, deren Bäume sich über die Mauern neigten. In der Nacht war Reif gefallen und am Morgen war Frost eingetreten. Jetzt strahlte die Sonne. Die Bäume, die ihre Blätter behalten hatten, schienen Blätter aus glitzerndem Kristall zu tragen und dann und wann fielen diese vereisten Blätter zu Boden und verursachten auf dem Pflaster ein leises Geräusch, wie zerbrechendes Glas.

Sie glaubte unter einem alten Stadttor hindurchzugehen, in dessen morschem Gemäuer ein großer Baum Wurzel geschlagen hatte.

Sie befand sich in einem halbwachen Zustande und ihre Füße trugen sie mechanisch, ohne daß sie recht wußte, ob sie ging. Plötzlich, bei einer Straßenbiegung, sah sie sich einem großen, roten Gittertor gegenüber, das weit offen stand. Da strafften sich ihre Schritte, gleichsam als fühlte sie, daß sie dem Ziel nahe sei und schritt ein schmales Gäßchen zwischen Gartenzäunen voll herabhängender Rosenzweige hinan, von denen einer ihren Hals streifte, so daß sie leicht zusammenschauerte.

Von weitem konnte sie auf der weißen Kalkmauer eines großen Torbogens in schwarzen Buchstaben die Worte lesen: »Zentral-Strafanstalt.«

Das große Tor tat sich auf. Sie dachte sich schon zwischen vier Mauern eingeschlossen und als sie über sich noch den Himmel erblickte, atmete sie tief auf mit einem hörbaren Seufzer. Sie war in einem Hof, der von vier neuen Gebäuden aus rotem Backstein eingeschlossen wurde.

Einige Frauen in roten Hauben, blauen Jacken und Holzschuhen waren damit beschäftigt, diesen Hof zu fegen. – Frauen, deren Blick einen Ausdruck hatte, wie sie ihn noch nie in den Augen von Geschöpfen gesehen hatte, die sich in Freiheit befanden.

Die beiden Wächter, zwischen denen sie noch immer einherschritt, führten sie auf eine Stiege zu, die unter einem Vorbau lag, wie man ihn an modernen Häusern findet.

Sie betrat einen Vorraum, in welchem sie einen kleinen Ofen wahrnahm, ferner in einer Fensternische einen mit großen Registern überhäuften Schreibtisch und durch die halboffene Tür des Nebenraumes das Fußende eines Eisenbettes.

Der Mann, der in der Fensternische saß, forderte ihr das Geld und den Schmuck ab.

Sie zog ihr Portemonnaie aus der Tasche, nahm von ihrem Hals ein kleines Medaillon herunter und löste aus ihren Ohren die schweren Ohrgehänge.

Der Mann machte sie aufmerksam, daß sie noch einen Ring am Finger hätte.

Es war ein armseliger kleiner Silberring mit einem Herzen auf einem Stückchen blauen Glases.

Sie zog ihn wie mit einem Ausdruck des Bedauerns vom Finger, während sie ununterbrochen die Schranke im Aug behielt, die den Raum in zwei Teile teilte: Eine Schranke aus großen viereckigen Pfählen, wie sie sie um den Elefantenzwinger gesehen hatte, einmal vor langer Zeit in dem Jardin de plantes. Mit geblähten Nasenlöchern und angstvoll wie ein wildes Tier, das den Käfig beschnüffelt, in den es eingesperrt werden soll, starrte sie die Eisentür an und vergaß ganz ihren Ring hinzulegen, den man ihr schließlich aus der Hand nahm.

Der Aufnahmsbeamte hatte in ein Register die Daten des Begleitscheines eingetragen, den ihm einer der Wächter übergeben hatte, als ein anderer auf sie zutrat und sie zu ihrer großen Verwunderung nicht durch die innere Gefängnistür abführte, sondern sie durch einen Korridor zwischen hohen Mauern nach einem kleinen Gartenhaus geleitete. Nach der ärztlichen Untersuchung holte sie der Aufseher von dort wieder ab, führte sie zu dem großen Eingangstor zurück und hieß sie eine Holztreppe hinaufsteigen, wobei ihr der Geruch von Lauge und von frisch gebackenem Brot in die Nase stieg.

Kaum war sie in ein großes Zimmer eingetreten, durch dessen zwei Fenster man in einem Hof Hunderte von Frauenhemden auf Stricken trocknen sah, als eine grau gekleidete Schwester mit strengem Gesicht ihr befahl, sich zu entkleiden. Sie begann sich langsam auszuziehen, immer wieder zögernd, mit Händen, die nur widerwillig die Knoten lösten, und die Langsamkeit ihrer Bewegungen verriet den Wunsch, noch ein paar Augenblicke länger die Kleider auf dem Leibe behalten zu dürfen, die sie in der Freiheit getragen.

Während sie die einzelnen Stücke ihrer armseligen Bekleidung ablegte, sah sie, wie eine Gefangene aus den Regalen eine blaugestreifte Schürze herausnahm, ein Zwillichkleid, einen Unterrock, ein Hemd aus grober Leinwand, gleich denen, die im Hof unten trockneten, ein Taschentuch, Wollstrümpfe, Filzpantoffel und Holzschuhe, die in der Gefängnissprache den Namen »Ballschuhe aus Schubkarrenleder« führten.

Endlich war Elisa in das Sträflingskostüm eingekleidet, mit der Doppelnummer auf dem Ärmel und auf der Wäsche, der Doppelnummer, unter der sie – ohne Namen künftighin – ihr Sträflingsleben führen sollte.

Die Schwester betrachtete prüfend die Neueingekleidete vom Kopf bis zu den Füßen und sagte der diensthabenden Gefangenen ein paar Worte, worauf diese sich Elisa näherte und die Hand an ihre Haube führte. Die neue Gefangene zuckte in einer heftigen Bewegung des Widerstrebens zusammen, die aber sogleich wich, als sie fühlte, daß die Hände, die ihre Haare berührten, sich damit begnügten, die beiden Schmachtlocken an den Schläfen unter der Haube zu verbergen.

Dann raffte die diensthabende Gefangene die auf der Erde zerstreuten Kleider Elisas zusammen und wickelte sie in ein Tuch, das sie zusammenknüpfte. Die Schwester hatte ein paar Zeilen auf ein Stück Pergament gekritzelt, das die andere auf das Bündel heftete.

Dann trugen die beiden Frauen das Bündel in den anstoßenden Raum.


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