Sophie von La Roche
Geschichte des Fräuleins von Sternheim
Sophie von La Roche

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Mylord Rich an Doktor T.

Ich bin wieder in Seymourhouse, weil mir ohne die Familie meines Bruders die ganze Erde leer ist. Mit tausendfachen geistigen Banden hat mich die Lady Seymour gefesselt, und die Herbsttage meines Lebens wurden so glühend, daß unsere Reise mich beinahe mein Leben kostete. Ich sah sie in Summerhall; zu Vaels bei ihrer Emilia; in ihrem Gesindhause; in D*, bei Hofe; in Sternheim bei ihren Untertanen; bei dem Grabe ihrer Eltern! – Die anbetungswürdige Frau! In allen Gelegenheiten, in allen Stellen, wohin der Lauf des Lebens sie führt, zeigt sie sich als das echte Urbild des wahren weiblichen Genies, und der übenden Tugenden ihres Geschlechts. – Auf unserer Rückreise wurde sie Mutter; – und was für eine Mutter! O Doktor! ich hätte mehr, viel mehr als Mensch sein müssen; wenn der Wunsch, sie zu meiner Gattin, zu der Mutter meiner Kinder zu haben, nicht tausendmal in meinem Herzen entstanden wäre! Mit wie vielem Recht besitzt die Tugend der großmütigen Aufopferung unsers Glücks die erste Stelle des Ruhms! Wie teuer kostet sie auch ein edelgewöhntes Herz! – Wundern Sie sich ja nicht, wenn sie selten ist. – Doch eine Probe wie diejenige, die ich machte, hat nicht leicht statt. Mit Vergnügen hab ich das Glück meines Bruders dem meinigen vorgezogen. Die Handlung reuet mich nicht, ich litt nicht nur niederträchtigen Neid, sondern allein durch das gezwungene Stillschweigen meiner Empfindungen, die ich keinem Unheiligen anvertrauen will, um die falsche Beurteilungen meiner ehrerbietigen Leidenschaft zu vermeiden, und die reine Freundschaft meiner edlen Schwester in kein zweideutiges Licht zu bringen. Ich fiel in eine düstre Melancholie, und entzog mich Seymours Hause auf einige Monate. Die Stille meines Landguts, wo ich ehemals von meiner großen Reise ausruhete, gab mir diesmal kein ganzes Maß von Frieden; ich wollte mich überwinden; aber ich bin an den süßen Umgang der fühlbarsten Seele gewöhnt; ihre schönen Briefe sind nicht sie selbst. Mein Lord Rich wurde geboren, und ich flog nach Seymourhouse; eine selige Stunde war es, in welcher Lady Seymour mir dieses Kind auf die Arme gab, und mit allem Reiz ihrer seelenvollen Physionomie und Stimme sagte. »Hier haben Sie Ihren jungen Rich; Gott gebe ihm mit Ihrem Namen Ihren Geist, und Ihr Herz!« Ein entzückender Schmerz durchdrang meine Seele. Er ruht in mir; niemand soll jemals eine Beschreibung von ihm haben. Der kleine Rich hat die Züge seiner Mutter; diese Ähnlichkeit schließt ein großes Glück für mich in sich; – wenn ich das Leben behalte, soll dieser Knabe keinen andern Hofmeister, keinen andern Begleiter auf seinen Reisen haben als mich. – Alle Ausgaben für ihn sind meine; seine Leute sind doppelt belohnt; ich schlafe neben seinem Zimmer; ja ich baue ein Haus am Ende des Gartens, in das ich mit ihm ziehen werde, wenn er volle zwei Jahre alt sein wird. Indessen bilde ich mir die Leute, die um ihn sein werden. Dieses Kind ist die Stütze meiner Vernunft und meiner Ruhe geworden. Wie wert macht ihn mir jede Umarmung, jede zärtliche Sorge, die er von seiner Mutter erhält – und wie glücklich wächst er und sein Bruder auf! Jede Handlung ihrer Eltern sind Beispiele von Güte und Edelmütigkeit. Segen und Freude blühen in jedem Gefilde der Gebiete meines Bruders; Danksagungen und Wünsche begleiten jeden Schritt, den er mit seiner Gattin macht. Mit einer Hand stützen sie das leidende Verdienst und helfen andrer Elende ab; mit der andern streuen sie Verzierungen in der ganzen Herrschaft aus, aber dies mit der feinsten Unterscheidung. Denn die Lady Seymour sagt: niemals müsse auf dem Lande die Kunst die Natur beherrschen; man solle nur die Fußstapfen ihrer flüchtigen Durchreise und hier und da einen kleinen Platz sehen, wo sie ein wenig ausgeruhet hätte. Unsere Abende, und unsere Mahlzeiten sind reizend; ein muntrer Geist und die Mäßigkeit beleben und regieren sie. Fröhlich treten wir in die Reihen der Landtänze unserer Pächter, deren Freude wir durch unsern Anteil verdoppeln. Die Gesellschaft der Lady Seymour wird von dem Verdienst gesucht, so wie Laster und Dummheit vor ihr fliehen; Sie können hoffen, in unserem Hause wechselsweise jede Schattierung von Talenten und Tugenden zu finden, die in dem Kreise von etlichen Meilen um uns wohnen. Und hier hat der Charakter meiner geliebten Lady Seymour einen neuen Glanz dadurch erhalten, daß sie die Verdienste anderer Personen ihres Geschlechts so lebhaft fühlt und schätzt. Mein Bruder ist der beste Ehemann und würdigste Gebieter von etlichen hundert Untertanen geworden; Seligkeit ist in seinem Gesichte, wenn er seinen Sohn, an der Brust der besten Frau, Tugend einsaugen sieht; und jeder Tag nimmt etwas von dem lodernden Feuer hinweg, welches in alle seine Empfindungen gedrungen wäre. Er hat die schwere Kunst gelernt, sein Glück zu genießen, ohne irgend jemand durch ein außerordentliches Geräusche mit seinem Glücke Schmerzen zu machen. Das einfache, obgleich edle Aussehen unserer Kleidung und unsers Hauses läßt auch die ärmste Familie unserer Nachbarschaft mit Zuversicht und Freude zu uns kommen. Von diesen Familien nimmt Lady Seymour von Zeit zu Zeit ein paar Töchter zu sich, und flößt durch Beispiel und liebreiches Bezeugen die Liebe der Tugend und schönen Kenntnisse in sie. Der reizende Enthusiasmus von Wohltätigkeit, die lebendige Empfindung des Edlen und Guten beseelt jeden Atemzug meiner geliebten Schwester. Sie begnügt sich nicht gut zu denken; alle ihre Gesinnungen müssen Handlungen werden. Gewiß ist niemals kein inniger Gebet zum Himmel gegangen, als die Danksagung war, welche ich die Lady Seymour für die Empfindsamkeit ihres Herzens, und für die Macht Gutes zu tun mit tränenden Augen aussprechen hörte. Wie viel Segen, wie viele Belohnung verdienen die, welche uns den Beweis geben, daß alles, was die Moral fodert, möglich sei, und daß diese Übungen den Genuß der Freuden des Lebens nicht stören, sondern sie veredeln und bestätigen, und unser wahres Glück in allen Zufällen des Lebens sind!


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