Sophie von La Roche
Geschichte des Fräuleins von Sternheim
Sophie von La Roche

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Madam Leidens an Emilia aus Summerhall

Mein erster Brief hat Ihnen schon gesagt, daß ich glücklich, sehr glücklich mit der gütigen Lady angelangt bin. Ich hoffe auch, meine Rosina und Herr B. sind ebenso wohl zurückgekommen. Es war mir leid, daß Rosina nicht über die See wollte; Übelkeit macht sie, aber es ist leicht zu überstehen.

Gewiß haben Sie schon Beschreibungen von englischen Landhäusern gelesen. Denken Sie sich das schönste im alten Geschmacke davon, und nennen es Summerhall; legen Sie aber an die Seite des Parks ein großes hübsches Dorf, und stellen Sie sich meine Lady und mich vor, wie wir, einander im Arme, die Gassen durchgehen, mit Kindern oder Arbeitern reden, einen Kranken besuchen, und den Bedürftigen Hülfe reichen. Dies ist nachmittags und abends das Geschäfte meiner Lady; morgens lese ich ihr vor, und besorge ihr Haus; Besuche, die sie von der wenigen Nachbarschaft erhält, und der Umgang mit dem vortrefflichen Pfarrherrn des Orts füllen das übrige der Zeit so aus, daß mir wenig zu meinem besondern Lesen übrig bleibt. Die Bücher, welche sich meine Lady ausgesucht hat, bezeichnen den Nationalgeist, und die Empfindung der sich immer nähernden Grenzen ihres Lebens. Jenes Fach füllen die Geschichtschreiber von England und die Hofzeitungen, dieses die besten englischen Prediger aus. Ich habe mir die Naturhistorie von England dazu genommen, und hievon reden wir in den Spaziergängen mit des Pfarrers Familie, weil seine Frau und zwo Töchter sehr vernünftig sind, und ich meine Lieblingskenntnisse gern vermehre und ausbreite. Ich bin wohl, und genieße einer sanften Zufriedenheit, die aber eher einer Beruhigung als einem Vergnügen gleichet, indem ich die eifrige Geschäftigkeit nicht in mir fühle, welche sonst meine Empfindungen und Gedanken beherrschte. Vielleicht hat mich der Hauch der sanften Schwermut getroffen, welche die besten Seelen der britischen Welt beherrschet, und die lebhaften Farben des Charakters wie mit einem feinen Duft überzieht. Ich habe meine Laute und meine Stimme wieder hervorgesucht; beide sind mir unschätzbar, wenn ich bei meinem Singen meine Lady mir einen Kuß zuwerfen, oder bei einem wohlgespielten Adagio ihre Hände falten sehe. Aber urteilen Sie überhaupt, wie stark meine Liebe zu England sein mußte, da ich, ungeachtet der grausamen Erinnerungen, die ich von einem Eingebornen habe, dennoch mit einiger Freude die Luft eines Parks atme, und dieses Land für mein väterliches Land ansehe. Ich habe die Kleidung und den Ton der Sprache ganz, und wünschte auch das Tun, und das Bezeigen der Engländerinnen zu haben; aber meine Lady sagt, daß alle meine Bemühungen den liebenswürdigen fremden Genius nicht verjagen würden, der jede meiner Bewegungen regierte. Das Vertrauen ihrer Leute, welches ich erworben; die außerordentliche Aufmerksamkeit auf ihre Lady, und die Ergebenheit, die sie ihr beweisen, welches sie als Folgen von jenem ansieht, und meinem Einfluß auf ihre Gemüter zuschreibt, dies ist von allem, was ich für sie tue, dasjenige, wovon sie am meisten gerührt scheint, und wofür sie mir die zärtliche Dankbarkeit bezeugt. Wenige Abende bin ich hier ohne Empfindung einer reinen Glückseligkeit schlafen gegangen, wenn mich die gute alte Lady aus ihrem Bette segnete, und ihre Hausbediente mit zufriedener Miene und einem liebenden Ton mir gute Ruhe wünschten; und mit einer süßen Bewegung gehe ich morgens bei Aufgang der Sonne in den Park, wo der Hirt mich wundernd ansieht, und mir mit seinem Knaben guten Morgen, gute Miß, zuruft. Dieser Zuruf dünkt mich in dem Augenblick, wo ich auf der Flur die Wohltaten Gottes verbreitet sehe, ein Zeugnis zu sein, daß ich auch gerne die Pflicht des Wohltuns übe; mit tränenden Augen danke ich dann unserm Urheber, daß er mir diese Macht meines Herzens gelassen hat. Sie wissen, daß mir ein Mooswäldchen und die geringsten Arten von Blümchen vergnügte Stunden geben können; und Sie denken also wohl, daß ich in unserm Park diese alten Freunde meiner besten Lebenszeit aufsuche, und mit Rührung betrachte. Denn immer binden sich in mir die Ideen des Vergangenen mit der Empfindung des Gegenwärtigen bei allen Anlässen zusammen. Ein freundliches Moos, und Zweige, die aus der Wurzel eines gestürzten Baums aufgewachsen waren, machten mich sagen: bin ich nicht wie ein junger Baum, der in seiner vollen Blüte durch Schläge eines unglücklichen Schicksals seiner Krone und seines Stammes beraubt wurde? Lange Zeit steht der Überrest traurig und trocken da, endlich aber sprossen aus der Wurzel neue Zweige hervor, die unter dem Schutz der Natur wieder stark und hoch genug werden können, in einem gewissen Zeitlauf wieder wohltätige Schatten um sich zu verbreiten. Mein Ruhm, mein glückliches Aussehen, meine Stelle in der großen Welt hab ich verloren; lange betäubte der Schmerz meine Seele, bis die Zeit meine Empfindlichkeit verringerte, die Wurzeln meines Lebens, welche mein Schicksal unberührt ließ, neue Kräfte sammleten, und die guten Grundsätze meiner Erziehung, frische, obwohl kleine Zweige von Wohltätigkeit und Nutzen für meine Nebenmenschen emportrieben. Sie sind, wie die Wurzelzweige meines Ebenbildes bei niedrigem Moos, und kleinen Grasarten aufkeimten, auch unter der geringen Klasse meiner Nebenmenschen entsprossen; aber es erfreut mich diese Klasse in der Nähe gesehen zu haben; denn ich habe manche schöne Blume darunter entdeckt, die dem erhabenen Haupte eines großen hochgewachsenen Baums ungekannt verblühet; und kann ich nicht zu meinem süßesten Troste sagen, daß unter dem Schatten meines Umgangs und meiner Sorgen die freigebige Aussaat der liebreichen Stifterin des Gesindhauses so viele nützliche Kreaturen erwachsen macht? Und nun ruhet das edle Herz meiner geliebten Lady Summers von großen und kleinen Lebenssorgen ungestört unter der vereinigten Bemühung aller meiner Fähigkeiten und meiner Dankbegierde von den mühsamen Schritten aus, welche das sechzigste Jahr unsers Alters zwischen fliehenden Freuden, und ankommenden Schwächlichkeiten zu machen hat.


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