Sophie von La Roche
Geschichte des Fräuleins von Sternheim
Sophie von La Roche

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Lord Rich, von Tweedale an Doktor T.

Wenn es billig ist, daß der Stärkere nicht nur seine eigene volle Last, sondern auch die Bürde des Schwächern trage, so erfülle ich meine Pflicht, indem ich nicht nur unter dem gehäuften Maß meiner Empfindungen seufze, sondern auch das überströmende Gefühl von meinem Bruder zusammenfassen muß. Meine Briefe an Sie sind die Stütze, die meine Seele erleichtert. Seymour sitzt wirklich zu den Füßen des Gegenstandes meiner Wünsche; ich entfernte mich; ihre Augen sagte mir zwar, daß sie mich gerne bleiben sähe; aber mein Bruder hielt ihre Hand, sein Herz fühlte den sanften Druck, den die ihrige ihm vielleicht ohne ihr Wissen gab; das einige fühlte ich auch, und dieses Gefühl hieß mich gehen. Zwei Tage sind's, daß wir hier angekommen. Sechs Pferde machten Aufsehen im Schloßhofe, und die Bedienten liefen zusammen; mein Bruder warf sich vom Pferde und rief: »Ist die Gräfin Douglaß mit der Lady aus den Bleygebürgen hier?« Auf die Antwort Ja zog er mich am Arm mit einem eifrigen »Kommen Sie, Bruder, kommen Sie.« »Wen muß ich melden?« rief ein Diener; »Lord Rich, Lord Seymour«, rief mein Bruder hastig, und eilte dem Kerl nach, der kaum klopfen konnte, als wir schon in der Türe waren. Die Gräfin Douglaß saß der Türe gegenüber; Lady Sternheim aber mit dem Rücken gegen uns, und las der Dame etwas vor. Seymours Eindringen, und das eilende Rufen des Bedienten, wer wir wären, machte die Gräfin stutzen und meine englische Freundin den Kopf wenden. Sie fuhr mit Schrecken zusammen – »O Gott«, rief sie, und ließ das Buch auf die Erde fallen, als Seymour sich zu ihren Füßen warf; »O die ehrlichen Leute – sie lebt – o mein göttliches, mein angebetetes Fräulein Sternheim!« rief er mit ausgestreckten Armen. Sie sah halb außer sich ihn und an, wendete aber den Augenblick den Kopf weg, und ließ ihn auf ihren zitternden Arm sinken – Die Gräfin Douglaß sah mit Staunen hin und her, ich mußte reden – aber mein erstes war auf die Sternheim zu zeigen. »Teure Gräfin, unterstützen Sie den Engel, den Sie bei sich haben! Ich bin Lord Rich, hier ist Lord Seymour –« Die Gräfin hatte sich eilends meiner Freundin genähert, die ihre beiden Armen um sie schlug und ihr Gesicht einige Minuten an der Gräfin Busen verbarg. Seymour konnte dieses Abwenden ihres Gesichts nicht ertragen, und rief in vollem Schmerzen aus – »O mein Oncle, warum mußte ich meine Liebe verbergen! Alle Qual, alle Zärtlichkeit meines Herzens kann mich nun nicht von dem Widerwillen schützen, den mir meine Nachlässigkeit zuzog! – O Sternheim, Sternheim! was soll aus mir werden, wenn ich in dem Augenblicke der Freude, Sie wiedergefunden zu haben, Ihren Unmut auf mir liegen sehe? Gönnen Sie mir, oh, gönnen Sie mir nur einen gütigen Blick.« Mit dem Anblick eines Engels und der ganzen Würde der sich fühlenden Tugend richtete Lady Sternheim sich auf, reichte errötend meinem Bruder die Hand, und mit gedämpfter Stimme sagte sie: »Stehen Sie auf, Lord Seymour, ich versichere Sie, daß ich nicht den geringsten Unmut über Sie habe«; und, seufzend setzte sie hinzu, »wo wäre mein Recht dazu gewesen?« Feurig-zärtlich küßte er ihre Hand; meine Augen sanken zur Erde; aber sie näherte sich mir mit freundschaftlichen Blicken, nahm meine Hand: »Teurer Lord! was für Freundschaft! Wie haben Sie mich finden können? Hat Lady Summers es Ihnen gesagt? – Was macht sie, meine liebreiche Mutter?« Ich küßte die Hand auch, die sie mir gegeben hatte; »Lady Summers ist wohl«, antwortete ich, »und wird glücklich sein, Sie wieder zu sehen; aber nicht Lady Summers hat mich hergeleitet; Reue und Gerechtigkeit riefen meinen Bruder und mich auf.« Mit einer erhöheten Gesichtsfarbe fragte sie mich: »Ist Lord Seymour Ihr Bruder?« – »Ja, und dies von der edelsten Mutter, die jemals lebte.« Sie antwortete mir nur mit einem bedeutenden Lächeln, und wandte sich zur Gräfin Douglaß. »Meine großmütige Erretterin«, sprach sie, »sehen hier zween unverwerfliche Zeugen der Wahrheit dessen, was ich Ihnen von meiner Geburt und meinem Leben sagte; ich danke Gott, daß er mich den Augenblick erleben lassen, wo Ihr Herz die Zufriedenheit fühlen kann, daß Ihre Güte für mich nicht verloren ist.« »Nein«, fiel Seymour ein, »niemals lebte eine Seele, welche der Verehrung der ganzen Erde würdiger wäre als die Dame, welche die Gräfin errettet haben; solang ich atmen werde, sollen Sie, edelmütige Gräfin Douglaß, den ewigen Dank dieses Herzens haben.« Mit tränenden Augen drückte er zugleich die Hand der Gräfin an seine Brust. Ich hatte mich indessen gefaßt, um etwas von unserem Überfall zu erklären. Einige Minuten waren wir alle stille. Ich nahm die Hand der Lady Sternheim; »können Sie«, fragte ich, »ohne Schaden Ihrer Ruhe und Gesundheit von Ihrem Verfolger reden hören? Er ist am Ende seines Lebens, und die größte Sorge seiner Seele windet sich unaufhörlich um das Andenken Ihrer Tugend und seiner Ungerechtigkeiten gegen Sie; sein Kummer über Ihren vermeinten Tod ist unaussprechlich; er hat mich und Lord Seymour zu sich gebeten, und uns schwören lassen, in die Bleygebürge zu reisen, um Ihre Leiche da aufzuheben, und mit allen Zeugnissen Ihrer Tugend und seiner Reue in Dumfries beizusetzen. – Ich will nicht sagen, wie traurig dieses Amt uns war. Nachdem wir so lange Zeit vergebens nach Ihnen gesucht hatten, sollten wir Sie tot wiedersehen! – Mein armer Bruder und – (ich konnte mich nicht verhindern dazu zu setzen) Ihr armer Freund Rich!« Eine Träne zitterte in ihren Augen, indem sie sagte – »Lord Derby ist grausam, sehr grausam mit mir umgegangen. Gott vergebe es ihm; ich will es von Herzen gerne tun – aber – sehen kann ich ihn niemals wieder, sein Anblick würde mir tödlich sein.« Ihr Kopf sank mit ihrer sinkenden Stimme bei den letzten Worten auf ihre Brust. Mein Seymour fühlte die rührende Verlegenheit dieser reinen Seele, und ging mit sich kämpfend ins Fenster – Lady Sternheim stund auf und verließ uns; Seymour und ich sahen ihr bewundernd nach. Nur in schottische Leinwand gekleidet, war sie reizend schön durch ihren nach dem vollkommensten Ebenmaß gebildeten Wuchs, und den schönsten Anstand in Gang und Bewegung; und ob sie schon hager und blaß geworden, so war dennoch ihre ganze Seele mit aller ihrer Schönheit und Würde in ihren Zügen ausgedrückt. Seymour und ich sagten der Gräfin Douglaß alles, was die Lady Sternheim anging, und sie erzählte uns hingegen, was sie von ihr wußte, seitdem sie die Tochter des Bleiminenknechts zu sich genommen, und wie sie gleich gedacht hätte, diese Person müsse eine edle Erziehung haben, und in einer unglücklichen Stunde von ihrer Bestimmung entfernt worden sein; zärtliches Mitleiden habe sie eingenommen, besonders da sie ihre Sorge für das Kind gesehen habe, und sie wäre gleich entschlossen gewesen, sie zu sich zu nehmen, wenn sie mit ihrem Bruder zurückginge; die Krankheit der Dame hätte es aber früher erfodert. Sie freute sich ihrem Herzen gefolgt zu haben. Sie ging hierauf nach ihrem Gast zu sehen, und wir blieben allein. Gedankenvoll blieb ich sitzen. Seymour kam, und fiel mir mit Weinen um den Hals: »Rich! – lieber Bruder, ich bin mitten im Glücke elend, und werde es bleiben. – Ich sehe deine Liebe und deine Verdienste um sie. – Ich fühle, daß sie mißvergnügt mit mir ist; – sie hat recht, tausend recht es zu sein – Sie hat recht dir mehr Vertrauen, mehr Freundschaft zu zeigen; aber ich fühle es mit einem tötenden Kummer. Meine Gesundheit leidet schon lang auf allerlei Weise unter dieser Liebe – Ich habe sie nun gesehen; ich werde um ihrentwillen sterben, und dies ist mir genug.« Ich drückte ihn mit einer sonderbaren Bewegung an meine Brust, und ich glaube ihm etwas kalt und rauh gesagt zu haben: »Ja, Seymour, du bist im Glück unglücklich, aber andere sind's ganz; – warum müssen deine Nebenbuhler allezeit mehr Licht sehen als du? – Derby hat recht; sie zieht dich vor. Ihr Zurückhalten beweist mir alles, was er sagte. Sei ihrer würdig, und beneide mir ihre Achtung, ihr Vertrauen nicht!« – »O Rich – o mein Bruder, ist dieses, kann dieses wahr sein? Betrügt dich deine Leidenschaft nicht wie mich die meinige? – O Gott! – ich muß sie erhalten oder sterben – wer wird für mich reden: wer? Ich kann nichts sagen – und du?« »Ich will es tun«, erwiderte ich, »aber heute noch nicht; wir müssen ihre Empfindlichkeit und geschwächte Gesundheit schonen.« Zu meinen Füßen war er, er umfaßte sie: »Bester, edelster Bruder«, rief er, »fodre mein Leben, alles, ich kann nicht genug für dich tun! Du willt – du! willt für mich reden? Gott segne dich ewig, mein treuster, mein gütigster Freund!« – »Ich will nichts, liebster Seymour, als sei glücklich, sei deines Glücks würdig! Du kennst den ganzen Umfang davon nicht so wie ich; aber ich gönne, ich wünsche dir es, so groß es ist.« Die Damen kamen zurück; wir redeten von Tweedale, und unsere Freundin erzählte, wie gerührt sie gewesen, Gottes schöne Erde wiederzusehen. Dann sprach sie von ihrer Entführung und ihren ersten Tagen im Gebürge. – Abends gab sie mir ihre Papiere; ich las sie mit Seymourn durch. O Freund, was für eine Seele malt sich darin! Wie unermeßlich wäre meine Glückseligkeit gewesen! – Aber ich ersticke meine Wünsche auf ewig. Mein Bruder soll leben! – Seine Seele kann den Verlust ihrer Hoffnungen nicht noch einmal ertragen; meine Jahre und Erfahrung werden mir durchhelfen. Seymour muß das Maß der Zufriedenheit voll haben, sonst genießt er nichts, mir reicht ein Teil davon zu, dessen Wert ich kenne. Schicken Sie uns Seymours Briefe an Sie gleich; sie müssen gelesen werden, und für ihn reden.


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