Friedrich Gerstäcker
Unter dem Äquator
Friedrich Gerstäcker

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Langsam wanderten sie den Gang hinab, der aus dem Friedhof führte, und Hedwig trocknete die Tränen, die noch an ihren Wimpern hingen. Für den Friedhof sind sie ein schöner, ehrender Schmuck, aber draußen auf der Straße darf man sie der kalten, fremden Welt nicht zeigen. Was kümmert sich die auch um das Leid des Nachbarn! Der Wagen brachte sie rasch wieder ein Stück in die Anlagen hinein. Dort aber bat Wagner seine Frau auszusteigen, da sie die übrige Strecke zu Fuß zurücklegen wollten.

»Es geht sich so wunderschön zwischen diesen blühenden Hecken«, sagte er, »und dort drüben habe ich auch in einer schattigen Laube unser Mittagsmahl bestellt. Wir brauchen deshalb den Wagen erst wieder, wenn er uns abholen soll.«

»Von Herzen gern«, sagte Hedwig, jetzt zum erstenmal sich umsehend, in welcher Gegend sie sich befanden, »aber dann wird die Kathrine auf uns warten.«

»Ich habe schon alles geregelt – hier herüber, wir biegen in diese Straße ein.«

Hedwig zögerte. Die Richtung mußte sie an ihrer alten Wohnung vorüberführen, und sie fühlte sich kaum stark genug, dieser schmerzlichen Erinnerung jetzt standhaft zu begegnen. Aber sie wollte stark sein – das Schmerzlichste war ja doch schon überwunden.

»Und weißt du, mein Liebes, daß ich vorgestern, als ich hier durchkam, um dich abzuholen, ganz zufällig einen alten Bekannten und Reisegefährten von dir getroffen habe«, sagte er, während er mit ihr in eine der breiteren Straßen einbog.

»Einen Reisegefährten von mir?«

»Herrn Salomon Holderbreit, der mit der letzten Mail von Java zurückgekehrt ist.«

»Zurückgekehrt? Ich dachte, er wollte sich von dort nach Sumatra oder Borneo wenden?«

»Nach Sumatra nicht«, lächelte Wagner, »denn dafür schwärmte er nur nach Herrn Joosts Berichten, hat aber doch später herausgefunden, daß ihn der nichtsnutzige Bursche nur dort hinüberschicken wollte, um ihn aus dem Weg zu haben. Aber auch für Borneo hat er keine Erlaubnis von der Kolonialregierung bekommen, soviel Mühe sich selbst Lockhaart gab, ihm behilflich zu sein. Die holländische Regierung weiß recht gut, welche Verwirrung die Missionare schon unter den sonst so fügsamen Eingeborenen angerichtet haben, und duldet sie nun einmal nicht, wo sie zu befehlen hat.«

»Und warum ist er nicht auf Java geblieben?« fragte Hedwig zerstreut, denn immer näher kamen sie der alten, nie vergessenen Heimat, und jeden Baum kannte sie hier – jeden Stachelbeerstrauch.

»Auch dort wollte man ihn nicht in das Landesinnere lassen«, erwiderte Wagner, der ihre Aufmerksamkeit noch abzulenken wünschte, »und wo es ihm mit Lockhaarts Hilfe, der sich sonderbarerweise gewaltig für ihn interessierte, doch gelang, wurden ihm an Ort und Stelle so viele Schwierigkeiten in den Weg gelegt, daß er es endlich voller Verzweiflung aufgab. Auch die endgültige Entscheidung in Heffkens Sache ist jetzt getroffen – Klapa, der Javaner, ist mit dem Tod, Heffken mit lebenslänglichem Zuchthaus bestraft worden. Heffken hätte freilich eine zehnmal strengere Strafe verdient, aber die Holländer mögen den Eingeborenen nicht ein solches Schauspiel mit einem ihrer eigenen Landsleute geben.«

Vor ihnen her gingen ein Herr und eine Dame, denen ein Bedienter in Livree folgte und einige eingekaufte Kleinigkeiten trug. Die Dame drehte den Kopf nach ihnen um. Es war eine bildschöne, noch ganz jugendliche, frische Gestalt, mit höchster Eleganz gekleidet. Jetzt erst sah Wagner ihren Begleiter an und glaubte, in ihm denselben Herrn zu erkennen, den er vorher auf der Treppe des Hotels überraschte. Fast unwillkürlich beschleunigte er seinen Schritt etwas, um die beiden Spaziergänger zu überholen, als ihn Hedwig sanft nach der anderen Seite hinüberdrängte.

»Dorthin, mein liebes Herz«, sagte er, »wir haben es nicht mehr so weit.«

»Können wir nicht durch jene Straße gehen? Sie hat mehr Schatten.«

»Wir schneiden aber hier ein großes Stück ab. Überlaß dich nur heut einmal meiner Führung. Apropos – ich habe dir noch eine Neuigkeit aus Java mitzuteilen: Nitschke gedenkt sich zu verheiraten.«

Sie waren jetzt dicht neben dem jungen Paar, als der Herr rasch, wie nach den eben gesprochenen Worten horchend, den Kopf wandte. In dem Augenblick aber und fast unwillkürlich griff er nach seinem Hut, und Wagner erwiderte völlig unbewußt den Gruß, denn der Fremde mit der reizenden jungen Frau am Arm und dem Lakaien hinter sich war niemand anderes als – Horbach.

Die junge Frau dankte freundlich – es war noch fast ein Kindergesicht mit treuherzigen blauen Augen –, und im nächsten Moment hatten sie das Paar überholt: Beide Männer schienen auch in der Tat viel zu sehr von der plötzlichen Begegnung überrascht zu sein, um an eine weitere Unterredung zu denken; sie wäre außerdem für beide peinlich gewesen. Wagner aber bog mit Hedwig jetzt rechts ein. Horbach schritt, vielleicht absichtlich, links hinüber, und Hedwig, die überhaupt Herrn Horbach gar nicht kannte, hatte die Fremden lange vergessen, denn vor ihr lag, von blühenden Bäumen umgeben wie in schönster Zeit, und so wenig verändert – wenngleich anscheinend frisch gestrichen, als ob sie es erst gestern verlassen hätte – das alte liebe Vaterhaus, die Heimat ihrer Kindheit.

»Und weißt du, wo wir sind?« flüsterte sie ihrem Gatten zu. »Ach, ich hätte mir das heute gern erspart!«

»Was, mein Herz?«

»Dort drüben steht die alte liebe Wohnung, in der ich geboren bin«, flüsterte Hedwig, und ihr Auge hing dabei voll wehmütiger Erinnerung an den Fenstern des Hauses, das zuletzt ihre Mutter bewohnt hatte. »Dort – o es war eine schöne, aber auch eine entsetzlich schwere, böse Zeit, und nie im Leben werd' ich die Tage vergessen, die ich dort verlebte! Aber wo gehst du hin?« fragte sie rasch und erstaunt, als Wagner geradewegs zu dem Haus hinüberbog.

»In unsere neue Wohnung, liebe Hedwig«, sagte der Mann in freundlichem Ton. »Das Häuschen da drüben war gerade zu verkaufen, und da ich glaubte, daß es dir vielleicht Freude machen würde...«

»Reinhard!«

»Komm, komm, mein Herz – bleib hier nicht stehen, wir fallen sonst auf, die Straße ist viel zu belebt dazu«, und er hatte vollkommen recht, denn die blühende, wunderhübsche Frau mit dem kleinen, von einem braunen Mädchen getragenen Kind war den Leuten ohnehin schon aufgefallen, und daß sie sich jetzt in heftiger Erregung befand, konnte ihnen um so weniger entgehen. Hedwig mußte sich auch wirklich mit Gewalt zusammennehmen, aber wie in einem Traum schritt sie an der Seite ihres Gatten über die Straße hinüber. Wie in einem Traum öffnete sie selber die kleine Gartenpforte, wo ihr das Herz fast gebrochen war, als sie dieselbe Pforte zum letztenmal geschlossen hatte. In der Laube in dem kleinen Gärtchen war der Tisch gedeckt – aber sie sah das nur mit einem flüchtigen Blick. Drüben öffnete sich die Haustür – Wagner legte den Arm um sie und führte sie die wenigen Schritte in das Haus, denn die Knie versagten ihr fast den Dienst –, drüben stand der alte treue Freund ihres Hauses, der alte Scharner, und streckte ihr die Arme entgegen, und als sie hineinflog und an seinem Herzen im ersten Augenblick an all die trüben Stunden wieder dachte, unter deren Eindruck sie Abschied genommen hatten, und ihre Tränen stärker und heftiger flossen, da streichelte ihr der alte Mann, selber mit nassen Augen, das volle kastanienbraune Haar, von dem der Hut zurückgeglitten war, und sagte leise: »Gott segne deine Rückkehr, mein liebes, braves Kind – Gott segne dich und deine Lieben viele tausend Mal und lasse dich so viele glückliche Tage hier verleben, wie du Tränen in dem alten Haus vergossen hast.«

»Mein lieber, lieber Freund –«

»Und da steht auch die Kathrine«, sagte Scharner mit einem gewaltsamen Versuch zu lachen, obgleich ihm die Tränen fast die Worte im Mund erstickten, »dort steht die Kathrine und schlägt ein Mal übers andere die Hände zusammen und weiß sich vor lauter Erstaunen nicht zu fassen.«

»Ja, Kinner«, schluchzte die alte treue Person, »ich wäs aach wahrhaftig nicht, wie mer is und wo mer der Kopp steht. Das ganze alte Haus, wie mer's fast verlasse habe – nur noch hübscher – nur noch freundlicher – und da solle mer widder mitenanner wohne?«

Hedwig warf einen fast scheuen Blick im Zimmer umher. Dort am Fenster stand der alte liebe Lehnstuhl, in dem die Mutter so manche Stunde in der letzten Zeit saß – hier an der Wand ihr altes Instrument, das sie mit von Mainz herübergebracht hatte. Am Fenster dort drüben die Resedastöcke und Monatsrosen, wie damals, dieselben Gardinen, die sie selbst gestickt hatte; und neben ihr stand mit leuchtenden Augen Wagner, in dem Glück seiner Gattin schwelgend, das nur im ersten Augenblick noch durch den Schmerz der Erinnerung zurückgehalten wurde.

»Und das alles verdanke ich dir!« sagte sie endlich – indem sie seine Hand ergriff und an ihr Herz zog – mit weicher, tiefbewegter Stimme. »All das Glück, das jetzt wie vom Himmel auf mich niederfällt; nur dir und deiner treuen Liebe – ich will immer daran denken!« Und als Wagner sich zu ihr beugte und ihre Lippen küßte und der kleine Bursche, den die Malaiin an die Blumen hielt, jubelte und strampelte, und die Kathrine vor lauter Freudentränen und Seligkeit gar nicht mehr aus den Augen sehen konnte, hatte der enge, stille Raum noch nie glücklichere Menschen umschlossen, hatte Gottes Sonne noch nie fröhlicher und herrlicher da draußen auf all die tausend und aber tausend Blumen heruntergestrahlt.


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