Friedrich Gerstäcker
Unter dem Äquator
Friedrich Gerstäcker

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So kam der Abend heran; von Nitschke war noch immer nichts zu hören noch zu sehen, und Kuhn schickte jetzt allen Ernstes Leute in verschiedene Richtungen aus, um sich nach ihm zu erkundigen und zu sehen, was aus ihm geworden war. Die meisten kehrten unverrichtetersache bald zurück. Nach einzelnen sollte er aber an dem Vormittag im Kampong gesehen worden sein, dann jedoch wieder den Weg zurück nach Kuhns Plantage eingeschlagen haben. Auch sollte in der Nähe zweimal geschossen worden sein; aber die Leute hatten sich nicht weiter darum gekümmert, weil dort mehrere Holländer wohnten und alle Europäer Gewehre in ihren Häusern hatten.

Kuhn stand auf der Veranda seines Hauses, rauchte seine Zigarre und schaute still und ernst vor sich nieder, als ein kleines malaiisches Mädchen in den Hof gesprungen kam und einem seiner Arbeiter etwas zurief; dieser schaute sich bestürzt nach ihm um und sprach etwas zu einem andern.

›Hallo, was gibt's da vorn? Was ist, Ketjil, was bringst du? Her mit dir! Was hast du dem Jungen da eben erzählt?‹ rief Kuhn rasch, der nicht ohne Grund glaubte, es könne eine Nachricht über den Vermißten sein. Die Kleine kam schüchtern näher; sie fürchtete sich vor dem Europäer, aber sie wagte auch nicht, seinem direkt gegebenen Befehl entgegenzuhandeln, und erzählte nun stotternd, daß draußen, am kleinen Fluß, neben dem Bambusdickicht, nicht weit von den einzelnen Hütten, in denen ein paar Chinesen wohnten, der weiße Tuwan hier aus dem Haus auf der Erde ausgestreckt liege und tot sei.

›Tot‹ – es ist ein häßliches Wort, eine stets unwillkommene Mahnung für den Lebenden; und Kuhn ging ein paarmal mit raschen Schritten auf der Veranda auf und ab. Endlich rief er dem kleinen Mädchen zu, auf ihn zu warten, bis er hinauskomme, zog sich an, rief ein paar seiner Burschen als Begleitung heran und verließ seine Plantage, um den Leichnam des unglücklichen tollköpfigen Menschen aufzusuchen, den er heute, wenn auch unabsichtlich, doch als Mitverursacher, einem so gewaltsamen Ende seiner Laufbahn entgegengejagt hatte.

›Ich wollte den Lump lieber bis an sein Ende füttern‹, flüsterte er dabei leise vor sich hin, als er dem schmalen Pfad flußaufwärts folgte. ›Wenn er nur nicht den dummen Streich gemacht hätte. Jetzt werd' ich die albernen Gedanken nicht loswerden, Gott weiß, wie lange.‹

Das kleine Mädchen lief indessen rasch voran, bis sie sich der angegebenen Stelle näherten; dann aber fürchtete es sich, den Ort wieder zu betreten, wo es vor einer Stunde zufällig den weißen Mann gefunden und fast selber den Tod gehabt hatte vor Schreck und Entsetzen.

›Da – der Tuwan!‹ sagte es scheu und schüchtern und deutete mit dem kleinen ausgestreckten Händchen auf ein ziemlich dichtes Gebüsch blühender Mangabäume, die sich an das Bambusdickicht anschlossen. ›Da drin weißer Mann – ausgestreckt – tot!‹ Und als ob sie selbst die Nähe des unheimlichen Körpers scheue, floh sie mit raschen Sätzen den Weg zurück, den sie gekommen waren. Kuhn sah ihr kopfschüttelnd nach; war es ihm doch selber nicht recht, daß er den Platz jetzt betreten sollte. Und als er die Hände in die Taschen schob und einen Augenblick wie unschlüssig dastand, als ob er überhaupt noch eine Wahl habe, fühlte er den Brief von Nitschkes Schwester, den der Verzweifelte in seiner Stube hatte liegenlassen und den er in Gedanken zu sich gesteckt hatte; und er zog die Hand wieder aus der Tasche, als ob er sie verbrannt hätte. Durch Zögern wurde aber hier nichts gebessert, im Gegenteil, eher verschlimmert; denn die Malaien, die er mitgenommen hatte, sahen ihn schon erstaunt von der Seite an und flüsterten miteinander. Indem er sich also zusammennahm, betrat er das Dickicht in der bezeichneten Richtung und brauchte nicht einmal weit vorzugehen, denn gleich hinter den ersten Bäumen, auf einer kleinen offenen Rasenstelle, lag der Vermißte lang ausgestreckt auf dem Rücken. Die Büsche hingen ihm dabei über das Gesicht nieder, so daß er es nicht gleich erkennen konnte; aber die weißen Hosen wiesen vorn an den Knien große Grasflecken auf, als ob er sich vorher auf die Knie geworfen und gebetet hatte, und Kuhn blieb wirklich einen Augenblick erschüttert stehen.

›Tuwan!‹ flüsterte da der eine seiner malaiischen Burschen, indem er sachte den Arm seines Herrn berührte, ›Tuwan Nitzi trada mati; trada! Ada mabok!‹

›Mabok? Den Teufel auch!‹ rief Kuhn, sich rasch zu ihm umdrehend. Nitschke betrunken statt tot? Der Gedanke war ihm noch nicht einmal gekommen. Dem erst einmal geweckten Verdacht folgte aber auch bald die Überzeugung. Zuerst warf er einen scharfen, forschenden Blick auf den vor ihm ausgestreckten langen Körper, dann beugte er sich zu ihm nieder, um seinen Puls zu fühlen, warf aber die glühend heiße Hand auch schon im nächsten Augenblick wieder ärgerlich von sich und sprach mit einem halb verschluckten, aber deshalb kaum weniger herzlich gemeinten Fluch: ›Da hört dann doch alles auf! Hat sich der nichtsnutzige Bursche von zu Haus fortgemacht, um sich hier zu betrinken, während wir uns daheim schon freuten, daß er endlich einmal einen gescheiten Einfall gehabt und seinem doch nutzlosen Leben ein Ende gemacht habe. Wenn ich nur wüßte, woher er den Arrak bekommen hat, denn er besaß keinen Deut Geld und hatte hier in der Nachbarschaft wahrscheinlich auch keinen Kredit. Das begreife ich nicht!‹

›Da drüben liegt die Flasche, Tuwan‹, sagte einer der Malaien, der sich inzwischen überall auf dem Platz umgesehen hatte, ›ist ganz leer.‹

›Ja, das glaube ich‹, entgegnete sein Herr, sich jetzt ebenfalls überall umschauend, ›da ist die Flasche, aber wo – wo zum Henker ist denn meine Pistole?‹

Die Pistole war nirgends zu finden. Einer der Malaien wurde jetzt in den nur wenige hundert Schritte entfernten Kampong geschickt, um dort nähere Erkundigungen einzuziehen, und Kuhn ging indessen zu den nicht weit entfernten chinesischen Häusern hinüber, um zu sehen, ob er dort Näheres über den Betrunkenen erfahren könne und was dieser vor allem mit der Waffe gemacht habe. Er sollte darüber nicht lange im Zweifel bleiben, denn schon im ersten Haus fand er seine Pistole, die Nitschke, hier vorbeikommend – zur Hälfte verzweifelt und zur andern Hälfte durstig –, für eine Flasche Arrak versetzt oder vielmehr verkauft hatte. Der Chinese erzählte, der Weiße habe ihm versichert, er würde nie mehr kommen, die Waffe abzuholen, aber wenn sie ihn fänden, sollten sie ihm ein ehrliches Begräbnis geben. Der Chinese versicherte natürlich, er habe geglaubt, der Weiße mache Spaß, noch dazu, da er die Pistole zurückließ, denn mit der Flasche konnte er sich doch nicht gut umbringen. Kuhn sagte nichts dazu, löste aber vor allen Dingen seine Pistole wieder ein, ließ den Betrunkenen dann durch die Burschen zu seinem Haus schaffen und auf sein Bett legen und hatte große Lust, ihn am nächsten Morgen wieder aus dem Haus zu jagen. Den Ärger über den wirklich komischen Leichtsinn des nichtsnutzigen Menschen hob aber auch wieder zum Teil das beruhigende Gefühl auf, daß er sich keine Vorwürfe über seinen Tod zu machen brauche, und er beschloß, es noch einmal eine Zeitlang mit ihm zu versuchen.

Als Nitschke übrigens am anderen Morgen wieder zu sich kam, den Brief seiner Schwester über seinem Bett festgenagelt fand und sich der Vorgänge des letzten Tages zu erinnern anfing, geriet er außer sich und verlangte jetzt ernsthaft eine Pistole, um seinem elenden Leben ein Ende zu machen. Kuhn versicherte ihm aber, daß er ihm ›nicht mehr traue‹, da es ihm schiene, als ob er mit Waffen ›nicht ordentlich umzugehen wisse‹, und verweigerte ihm nicht allein die Pistole, sondern schickte ihn auch, nach einer tüchtigen Epistel über die Vorgänge des letzten Tages, an seine Arbeit, was Nitschke eine Zeitlang gutgetan zu haben scheint. Jetzt ist aber, wie wir eben gesehen haben, der Teufel aufs neue in ihn gefahren, und da Kuhn fest entschlossen war, ihn nach einem erneuten Rückfall nicht wieder aufzunehmen, weiß ich jetzt selber nicht, was aus dem Burschen werden soll. Das bleibt sich übrigens auch gleich und geht uns nichts weiter an, war es doch bloß diese Geschichte, die ich euch erzählen wollte.«

Die jungen Leute lachten über den drolligen Leichtsinn des Säufers; einzelnen, die lieber am Kartentisch saßen als etwas von einem Menschen erzählen hörten, der sie doch nicht weiter interessierte, hatte die Zeit indessen schon zu lange gedauert. Einer der Tische wurde deshalb auch gleich besetzt, und während Wagner mit drei anderen an dem einen Platz nahm, setzten sich die übrigen desto fester um die Bowle her, um sich ungestört diesem Genuß hingeben zu können. Die Kartenspieler horchten indessen nicht auf das Gespräch, das sich am anderen Tisch entspann, bis Wagner durch ein paar lauter und heftiger ausgestoßene Worte van Roekens aufmerksam wurde und hinüberhorchte.

»Und verdammt will ich sein!« rief van Roeken, von dem kräftigen Getränk erregt, »wenn ich ein solches Leben noch ein Jahr lang fortführe. Auf heute in sechs Monaten lade ich euch alle zu meiner Hochzeit ein!«

»Hurra, ein Wort ein Mann!« jubelten die fröhlichen Gesellen.

»Und zehn Körbe Champagner, wenn ich mein Wort nicht halte«, setzte van Roeken erregt hinzu.

»Torheit, Freund!« rief sein Kompagnon vom anderen Tisch herüber. »Mach keine solche Versprechungen. Wenn du nun bis dahin keine Frau bekommst?«

»Dann heirate ich das erste beste malaiische Mädchen, dem ich am Tage vorher auf der Straße begegne«, warf der Erregte trotzig dagegen ein, »aber ich brauche keine sechs Monate, um eine Frau hier an Ort und Stelle zu haben.«

»Und wo willst du sie herbekommen?«

»Ich verschreibe mir eine von Holland«, lachte van Roeken. »Übermorgen geht die Mail, und in sechs Monaten kann sie mit aller Bequemlichkeit meine Hausfrau sein.«

Wagner schüttelte nur den Kopf, erwiderte aber keine Silbe darauf, und die übrigen arbeiteten sich nun in ihrer tollen Weinlaune den Plan mit allen Einzelheiten aus. Es schlug zwölf Uhr, ehe sie sich trennten, und als die einzelnen Bendis vorfuhren, um ihre verschiedenen Herren aufzunehmen, wurde es stiller und stiller in der noch vor kurzer Zeit so lebendigen Wohnung, die jetzt, trotz der noch hell strahlenden Lampen, wild und verödet aussah. Der Tisch war unordentlich mit Flaschen und Gläsern bedeckt, das Tischtuch von großen Weinflecken und Zigarrenasche entstellt, die Stühle standen bunt durcheinander, die Karten lagen, zum Teil heruntergefallen, neben angerauchten Zigarren auf den hellen Steinplatten. Ein paar Malaien schlichen dabei schläfrig in dem Portico umher, um heut abend noch ein wenig aufzuräumen und, wenn es möglich wäre, den einen oder anderen Rest von Wein für sich in Sicherheit zu bringen. Es waren aufgeklärte Mohammedaner, die recht gut wußten, daß sie ein halbes Glas Wein nicht in die Hölle bringen konnte.

Wagner war der letzte von allen Gästen, von denen jeder in seinem eigenen Bendi nach Hause fuhr. Er hatte seinem Kutscher befohlen, die übrigen erst alle fortzulassen und dann vorzufahren. Van Roeken hatte von den letzten Abschied genommen und ging mit untergeschlagenen Armen auf der noch vor den Säulen befindlichen Treppe auf und ab. Wagner war in der Mitte des Porticus stehengeblieben und sah ihm schweigend eine Weile zu, endlich sagte er: »Roeken, ich hoffe doch nicht, daß aus dem Scherz von heute abend Ernst werden wird!«

»Scherz?« fragte van Roeken, wie erstaunt zu ihm aufsehend, »was für ein Scherz?«

»Der mit der zu bestellenden Braut.«

»Und wer sagt dir, daß es überhaupt ein Scherz war? Ist das nicht von so entfernten Kolonien aus mehr als einmal und mit Glück geschehen?«

»Allerdings«, sagte Wagner ruhig, »du hast auch gerade dabei das richtige Wort gebraucht: mit Glück! Du mußt aber bedenken, daß du bei dem wichtigsten Schritt deines Lebens, den du im Begriff bist zu tun – denn alle anderen lassen sich rückgängig machen –, dem blinden Zufall deine ganze spätere Zukunft anvertrauen willst, und wenn du nicht...«

»Bitte um Verzeihung«, unterbrach ihn der Freund rasch, »so ganz und gar denk' ich nicht, mir die Hände zu binden. Kommt das Mädchen herüber, und wir gefallen einander nicht, so zahle ich ihr die freie Rückfahrt und ein Abstandsgeld. Wir haben uns das alles überlegt.«

»Und glaubst du, daß irgend jemand darauf eingehen würde?«

»Bah, zehn für eine«, sagte van Roeken lachend.

»Gut, selbst das angenommen«, fuhr Wagner ruhig fort, »und nicht einmal gerechnet, daß du dabei Tausende von Gulden auf eine einzige ungewisse Karte setzt; in welchem Lichte steht deine künftige Frau den anderen Familien gegenüber, und wo wirst du wagen dürfen, sie einzuführen?«

»Und wer braucht davon zu wissen?« sagte van Roeken.

»Unsere ganze Gesellschaft; glaubst du, daß die schweigen werden?«

»Sie haben es fest versprochen.«

Wagner schüttelte langsam den Kopf.

»Du kennst die Welt besser«, sagte er endlich, »als daß du wirklich glauben solltest, sie würden ein solches Versprechen halten. Das Mädchen hätte noch keine vierundzwanzig Stunden javanischen Boden betreten, und jede Familie in Batavia wüßte alles, was sie beträfe – ja noch mehr. Nein, die Hoffnung laß dir vergehen, daß du die Sache als Geheimnis behandeln könntest, und schon daß du diese Absicht hast, gibt mir Hoffnung, du wirst es dir, ehe du den Schritt tust, reiflich überlegen.«

»Ich habe nicht mehr viel Zeit dazu«, lachte van Roeken, »denn übermorgen geht die Mail.«

»Jedenfalls überschlafe deinen Plan«, sagte Wagner ernst. »Du bist heute abend aufgeregt, der frühe Morgen ist die beste Zeit, solche Sachen zu überdenken.«

»Du glaubst doch nicht etwa, daß ich meine vollen Sinne nicht beieinander hätte!« rief van Roeken gereizt.

»Ich denke nicht daran«, entgegnete sein Freund, der ihn durch Widerspruch in seinem tollen Plan nur zu bestärken fürchtete. »Übrigens ist es spät geworden – mein Bendi wartet. Gute Nacht, Leopold. Morgen sprechen wir hoffentlich mehr darüber.«

»Vielleicht«, sagte van Roeken ausweichend, »gute Nacht!«

Der Bendi hielt vor der Tür; Wagner sprang hinein, die Pferde zogen an, der Boedjang sprang mit der Fackel hinten auf, und das leichte Fuhrwerk rasselte den Weg hinab zum Tor hinaus, der eigenen Heimat zu.


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