Friedrich Gerstäcker
Unter dem Äquator
Friedrich Gerstäcker

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36. Fahrt ins Landesinnere

Es war ein wundervoller Morgen, an dem zwei bequeme Kutschen, jede mit vier rüstigen inländischen Pferden bespannt, vor der Tür von van Straatens Wohnung hielten und malaiische Diener einzelne kleine Koffer sowie Körbe mit Lebensmitteln und Wein an den verschiedenen Plätzen unterbrachten. Wagners Bendi hielt dicht daneben, und Wagner selber stand in einem leichten Reiseanzug, wie die übrigen einen breitrandigen Strohhut auf, mit den beiden Herren Lockhaart und van Straaten vor dem Portico und blies den Rauch seiner Zigarre in die klare Morgenluft hinaus. Die Damen waren noch im Haus.

»Na ja«, sagte Lockhaart, indem er eine schon ausgerauchte Zigarre wegwarf und eine frische anbrannte, »die Frauenzimmer sind immer noch nicht da. Das weiß doch der Henker, was die immer so lange zu pesteln und zu häkeln und zu stecken und zu putzen haben. Wie wär's, wenn wir langsam vorausführen, denn du willst uns doch nicht etwa verteilen, Lodewijk?«

»Waarachtig niet!« rief dieser rasch aus, »die Brouwetjes mögen zusammen fahren, und wir nehmen den anderen Wagen. Hab' auch den Weinkorb dort hineinschaffen lassen und die Zigarren; sonst muß man sich immer vorsehen, ob der Rauch da oder dort hinüber zieht.«

»Brav arrangiert, mein Junge«, sagte Lockhaart, sich vergnügt die Hände reibend, »das gibt eine famose Partie, und ich freue mich darauf, wie ich mich lange auf nichts gefreut habe – aber die Frauen kommen noch immer nicht. Dazu gehört doch eine Bärengeduld – ich glaube wahrhaftig, die alte Kathrine kann mit ihrer Toilette nicht fertig werden.«

»Nein, diesmal ist es meine Alte«, lachte van Straaten. »Hedwig und die Kathrine sind schon seit einer halben Stunde bereit gewesen, die Doortje wird heute aber mit ihrer Morgentoilette nicht fertig, und ich fürchte, sie will die ›Eingeborenen‹ aufs äußerste in Erstaunen setzen.«

»Na, da kommen sie endlich – guten Morgen, guten Morgen, Brouwetjes, und nun auf eure Plätze! Dort drüben scheint schon die Sonne durch die Wipfel; wir dürfen nicht warten, bis sie uns auf den Kopf brennt.«

Wagner war zu Hedwig gegangen, um sie zu begrüßen. Das junge Mädchen sah höchst liebenswert und frisch in dem schneeweißen Morgenkleid und dem einfachen, mit Gartenblumen und einem rosa Band geschmückten Strohhut aus. Ein leichtes Erröten verlieh dabei ihren Zügen einen noch größeren Reiz, als sie dem jungen Mann die Hand entgegenstreckte und lächelnd sagte: »Das ist nett von Ihnen, daß Sie gekommen sind. Ich freue mich richtig darauf, das schöne Land jetzt auch einmal aus eigener Anschauung kennenzulernen, von dem mir Mevrouw van Straaten schon so viel Reizendes erzählt hat. Es muß wirklich herrlich im Inneren sein.«

»Es wird Ihre höchsten Erwartungen noch übertreffen«, sagte Wagner, »denn wie hoch man die...«

»Vorwärts! Vorwärts!« unterbrach ihn aber Lockhaart, »das Praatjen könnt Ihr Euch auf heute mittag aufsparen. Hierher, Wagner Ihr seid der Jüngste, Ihr müßt den Rücksitz nehmen natürlich, jetzt muß der auch noch erst den Damen in den Wagen helfen, damit die malaiischen Schufte danebenstehen und die Mäuler aufsperren können. Alles klar, Lodewijk? So, hier herein, jetzt Api, meine Jungen – nur vorwärts, das geht auch unterwegs – so, endlich haben wir einmal die Anker auf und gehen mit vollem Wind vierzehn oder sechzehn Knoten die Stunde; die Brouwetjes können sehen, daß sie mitkommen.« Der alte Herr war heute wie ausgewechselt, lachte und erzählte und rauchte dazu, und amüsierte sich vortrefflich, und der gute alte van Straaten, mit seinem gemütlichen, treuherzigen Gesicht saß seelenvergnügt neben ihm und freute sich von Herzen über seines Schwagers gute Laune.

»Und das alles verdanken wir nur Ihnen, Wagenaar«, brachte er auf einmal so plötzlich heraus, daß ihn seine beiden Begleiter erstaunt ansahen, »die ganze Veränderung ist mit diesem Menschen erst vorgegangen, seit wir das junge Mädchen im Haus haben. Früher, sage ich Ihnen, Wagenaar, war er der langweiligste, verdrießlichste und unzufriedenste Peter, den es nur auf der Gotteswelt geben konnte – jetzt ist er wie ausgewechselt. Er spricht; er lacht; er erzählt; das Essen schmeckt ihm, der Kaffee ebenfalls, und wir leben jetzt mit ihm gerade wie im Himmel.«

»Jetzt hör einer die alte Plappertasche an!« rief Lockhaart, sich erstaunt halb zu ihm umwendend. »Wer ihn so reden hörte, müßte meinen, ich sei früher das unleidlichste, nichtsnutzigste Geschöpf auf der Welt gewesen, anderen Menschen nur zur Plage und zur Qual.«

»Das warst du auch, Martijn – hol mich dieser und jener, das warst du auch!« rief van Straaten dagegen, »und ich will meine Alte, deine eigene Schwester, zum Zeugen gegen dich anrufen, daß du das unausstehlichste Exemplar von einem lebendigen Schwager gewesen bist, der je auf zwei Beinen zum Ärger seiner Mitmenschen herumlief. Jetzt kann man's dir sagen; so etwas macht sich recht gut aus der Entfernung, zur Erinnerung, und mag auch vielleicht als Warnung für die Zukunft dienen; aber Gott bewahre uns davor, daß wir's wieder einmal genießen sollten. Keinesfalls lass' ich, solange du noch bei uns bist, das Mädel wieder aus dem Haus, denn solch einen kapitalen Blitzableiter möchten wir vielleicht nicht wieder bekommen.«

Wagner schwieg; aber das alles paßte zu dem, was ihm van Roeken darüber gesagt hatte. Der alte Lockhaart fühlte sich in der Nähe des Mädchens wohl, und selber reich – und wenn auch schon, für Indien wenigstens, hoch in den Jahren –, war es da nicht das natürlichste, daß er daran denken sollte, sie für immer an sich zu fesseln? Brauchte er doch bald eine Pflege für sein heranrückendes Alter, und wer hätte ihm die besser gewähren können als eine Frau. Und Hedwig? Wenn er um ihre Hand warb, hätte sie wohl schwerlich Nein gesagt, und wäre es nur deshalb gewesen, um dieser fatalen Lage zu entgehen, in der sie sich durch van Roekens Rücksichtslosigkeit noch immer befand. Wagner sah rückwärts, und von seinem Platz aus konnte er das junge Mädchen sehen, wie sie an Mevrouw van Straatens Seite entzückt und selig auf die wundervolle Landschaft ringsumher hinausschaute. In der Tat hatte sie auch in diesem Augenblick für nichts anderes Sinn, dachte weder an Vergangenheit noch Zukunft, und schwelgte nur in der wundervollen, zauberschönen Gegenwart, die sie, wohin ihr Auge fiel, umgab.

Am Anfang ahnte sie freilich nicht, was für ein Genuß sie heute noch erwartete, denn solange sie sich noch in den Vorstädten befanden, blieb sich der Weg ziemlich gleich und die Aussicht durch Gärten und mächtige Bäume rechts und links beschränkt. Je weiter sie aber hinaus, dem Landesinneren zufuhren, desto mehr verlor sich dieser Charakter, der bis hierher noch immer europäische Gebäude, von tropischer Vegetation eingeschlossen, gezeigt hatte. Auch nur allmählich veränderte sich die Szene: die Straße blieb noch immer von Hecken und Gärten gesäumt, aber mehr und mehr verschwanden die europäischen Wohnungen, die bis jetzt mit ihrer grünen Einfassung an beiden Seiten den Hintergrund gebildet hatten. Dafür machten sie aber nun kleinen, niedrigen, doch um soviel malerischeren Hütten der Eingeborenen Platz, die mehr vorn an der Straße standen und unter die Palmen und Waringhis auch viel besser paßten. In voller Flucht jagten indessen die vier Ponys mit dem leichten Wagen und ihrer nicht gerade übermäßigen, aber doch auch nicht unbedeutenden Last dahin, denn bei jedem Wagen saß der Kutscher auf dem Bock, und zwei Malaien standen hintendrauf, die auch teilweise absprangen und die Tiere anfeuerten. Aber die lebendigen Pferde schienen die Last gar nicht zu fühlen; die Straße war vortrefflich, glatt wie ein Tisch und hart und trocken, und Staub und Kies wirbelten hinter ihnen auf, als ihre kleinen Hufe im Takt darüberhin klapperten. Plötzlich, wie mit einem Zauberschlag, hielten beide Wagen unter einem langen, auf niedrigen weißgetünchten Backsteinsäulen ruhenden Gebäude, wo schon andere Malaien mit fertig angeschirrten Pferden bereitstanden, um die Stränge der müdegehetzten abzuwerfen und die frischen vorzuspannen.

»Nun, wie geht's?« rief van Straaten den jetzt dicht hinter ihnen haltenden Damen zu, indem er sich im vorderen Wagen aufrichtete und umdrehte. »Wie gefällt es unserem Pflegetöchterchen?«

»Oh, es ist wirklich herrlich! Wirklich schön!« rief Hedwig entzückt. »Das Land ist so wundervoll, wie ich es mir nie geträumt hätte!«

»Na, warten Sie nur; es kommt noch besser, wenn wir nur erst einmal aus den hohen Bäumen heraus sind«, nickte der alte Herr ihr zu. »Von hier ab fahren wir zwischen die Reisfelder hinein, und da bekommt das Land ein ganz anderes Aussehen.«

Ihr Gespräch wurde unterbrochen, denn von allen Seiten strömte ein Schwarm kleiner, halbnackter, brauner Malaien heran, Jungen und Mädchen, und umdrängte schreiend erst beide, dann aber nur den vorderen Wagen. Hedwig erhob sich erstaunt, denn sie wußte nicht, was das zu bedeuten hatte. Es sah allerdings so aus, als ob sie um etwas bitten wollten, zum Betteln waren sie aber alle zu lustig und ausgelassen. Gab ihnen die Natur hier nicht auch alles, was sie brauchten? Lockhaart wußte aber recht gut, weswegen sie hierhergekommen waren, ja hatte sogar diese kleine Bande erwartet und sich darauf gefreut und vorbereitet; denn wie sich jetzt herausstellte, trug er eine Menge kleines Kupfergeld in allen Taschen mit. Als sich die meisten nun jubelnd und die Arme emporstreckend auf einem Haufen sammelten, warf er eine ganze Handvoll kleiner Münzen mitten zwischen sie hinein. Das aber gab ein Gedränge und Gekreische, und kopfüber stürzten die Jungen so wild über die Deute her, daß sich die kleinen Mädchen scheu davon zurückdrängten. Denen warf aber Lockhaart jetzt eine andere Handvoll Münzen hinüber, und ein paar der Burschen, die bei dem ersten Knäuel nicht ankommen konnten und hier bequemere Beute machen wollten, wurden von dem Kutscher rasch mit lauten Peitschenhieben in ihre richtige Entfernung zurückgewiesen.

Eine wahre Lust aber war's indessen, zuzusehen, wie sich die kleinen Malaien um die Deute balgten. Mit dem Kopf voran schnellten sie sich in den dicksten Haufen hinein, über die Schultern der dicht Zusammengedrängten sprangen und kletterten sie, und wer eine oder ein paar der kleinen Kupfermünzen gewann, schob sie nur rasch mit den staubigen Fingern in den Mund – die einzige Tasche, die sie trugen –, um ihre Hände wieder für weitere Beute freizubekommen. Das war dabei ein Jubel und ein Gekreisch, daß man sein eigenes Wort kaum verstehen konnte, und noch während sie sich balgten und zur Seite warfen, gellte auf einmal ein lauter, schriller Ruf zwischen sie hinein, der sie mahnte, den anspringenden Pferden Raum zu geben. Diese waren nämlich schon umgespannt, und während die Kinder nur eben genug zur Seite wichen, daß sie vorüber konnten, zogen die frischen Tiere, von Peitschenschlägen und lautem Hallogeschrei der Umstehenden getrieben, an, und rissen die leichten Wagen im Flug aus dem Säulenbau hinaus und wieder in die reizende Landschaft hinein, die sich jetzt auf einmal wie ein weites Bild vor ihnen ausdehnte.

Mit diesem Kampong ließen sie in der Tat die beengenden Gärten zurück; rechts und links öffnete sich der Blick ins Freie, und während im Hintergrund die mächtigen, wildzerrissenen und feuergärenden Bergrücken Javas sichtbar wurden, die das Rückgrat der ganzen Insel und die Wasserscheide zwischen der nördlichen und südlichen Hälfte bilden, breiteten sich vor ihnen die eigentümlich angelegten Reisfelder der Eingeborenen aus. Jetzt, mit hier und da noch einem kleinen Garten, irgendeiner Anpflanzung in der Nähe, ließ sich auch erst die wirkliche Schönheit des Landes erkennen, denn bis dahin hatte die überreiche Vegetation das verhindert und dem Schauenden zu viel auf einmal geboten. Aber wohin sollte der Blick jetzt zuerst schweifen – was zuerst erfassen? Zuerst das Fernste, weitest Abgelegene, gerade, weil er bis dahin eingeengt und von üppiger Vegetation gewissermaßen gefangengehalten wurde. Jetzt fliegt er ungehindert zu den Bergen hinüber, deren rauhe, scharf abgerissene Konturen hier und da gegen den tiefblauen Himmel abstachen und an ihren höchsten Spitzen auch wohl von hauchfeinen Nebeln umzogen wurden. Noch standen überall am Weg einzelne Bäume, hier und da ein stattlicher Waringhi, der, von riesigem Umfang, seine dem Birkenlaub nicht unähnlichen Zweige von dem mächtigen Wipfel aus in üppigen Festons bis zum Boden fallen ließ; dann auch die prächtige Kokospalme, die Königin der Bäume, und die schlanke, schwankende Arekapalme mit ihrem hohen, zierlichen Stamm und elegant geformter Wipfelkrone. Zwischen diesen aber als vordere Kulisse und mit den mächtigen, trotzigen Bergen als Hintergrund zog sich in weiter, wellenförmiger Strecke das in regelmäßige Felder geteilte Land zu beiden Seiten hin, hier noch von baumbewachsenen Kulturen unterbrochen, dort in kleine viereckige, eingeränderte Stücke geschnitten, und bunt zerstreut dazwischen waren nur dichte, abgerundete Buschflecken zu sehen, aus denen einzelne Palmenwipfel ihre federartigen Kronen streckten.

»Wie sonderbar das aussieht«, sagte Hedwig, die mit lächelnden Blicken an der Verwandlung dieser Szenerie hing, »eben noch das ganze Land von Gebäuden dicht besät, und jetzt auf einmal, die in unserer Nähe befindlichen ausgenommen, keine menschliche Wohnung, so weit das Auge reicht.«

»Und wie irren Sie sich da, meine liebe Hedwig«, sagte lächelnd die alte würdige Dame. »In Europa freilich würde ein so dichtbevölkerter Landstrich wie dieser eine Menge kleiner, feuerroter Gruppen – die Ziegeldächer nämlich – zeigen, die von niedrigen Obstbäumen eingeschlossen wären. Hier in Indien aber brauchen die Häuser oder Wohnungen weit mehr den Schatten als den Sonnenschein, und deshalb liegt in all jenen kleinen Gebüschen, die Sie da sehen, und die unregelmäßig über die ganze Gegend verstreut sind, in jedem einzelnen ein kleines Dorf.«

»Ein Dorf? Das ist ja aber kaum möglich!«

»Wir werden später solche ähnliche Flecke besuchen«, sagte Mevrouw; »jene Gebüsche bestehen einzig und allein aus den verschiedensten Fruchtbäumen, hier und da von Bambusstreifen umgeben, denn ohne Bambus können die Eingeborenen nicht bestehen. Dazwischen aber sind Kokos-, Areka- und Arenpalmen gepflanzt. Die ersten der Nüsse wegen, die ein kühlendes Getränk geben; die zweiten der kleinen Frucht wegen, die sie tragen, und die von den Eingeborenen zum Betelkauen verwendet wird; die dritte dagegen, um den Stamm anzuzapfen und den auslaufenden Saft zu Zucker einzukochen. In dem Schatten dieser herrlichen Bäume liegen dann die kleinen niedrigen und luftigen Hütten und wohnen die einfachen, fleißigen und braven Menschen, die Eingeborenen, die fast alle hier vom Ackerbau leben – jede Familie fast in einem kleinen Paradies. Aber gleich dort vor uns liegt eine solche Dessa, wie man diese kleinen, in Fruchthainen versteckten Häusergruppen nennt, und Sie werden dort bestätigt finden, was ich eben sagte. Es sind künstliche Oasen, nur daß sie in keiner Wüste, sondern in einem sonnbeschienenen Landstrich liegen, von dem jeder Fußbreit urbar gemacht und bebaut ist.«


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