Friedrich Gerstäcker
Unter dem Äquator
Friedrich Gerstäcker

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Unweit von ihnen stand der Steuermann des Schiffes, wie der Obersteuermann im Unterschied zu seinem Untersteuermann genannt wird. Es war ein noch junger Mann, eine edle, wenn auch sonnengebräunte und etwas rauhe Gestalt, dem der runde Panamahut auf den dichten braunen Locken und die leichte Seemannstracht vortrefflich standen. Aber das sonst so offene und ehrliche Gesicht sah ernst und düster aus, und als er an den Wanten des Besanmastes lehnte, schweifte sein Blick wie ungeduldig zu dem jetzt anlegenden Boot und der Gestalt der jungen Frau hinüber, die sich vorbereitete, das Schiff, auf dem sie monatelang mit ihm gefahren war, in wenigen Minuten für immer zu verlassen. Ein paarmal zuckte er auch fast unwillkürlich empor, und es war, als ob er sich dem Mädchen nähern wolle, um Abschied von ihm zu nehmen – Abschied für immer. Er aber, der vor keiner Gefahr zurückschreckte und dem wildesten Taifun dieser Meere schon kühn und unverzagt die Stirn geboten hatte, wagte es nicht, das letzte Abschiedswort an ein bedauernswertes, unglückliches Menschenkind zu richten, das zitternd an der Schwelle eines neuen Lebens stand.

Aber Hedwig hatte ihn nicht vergessen, wenn sie auch nicht ahnen konnte, was gerade in diesem Augenblick in seinem Herzen vorging. Er war immer so freundlich und achtungsvoll gegen sie gewesen, hatte unverdrossen, unermüdlich ihre kleinsten Wünsche auf der langen Reise zu befriedigen versucht und selbst für die alte Kathrine gesorgt und nie über sie gelacht, wenn die etwas ungeschickte Alte zu irgendeinem komischen Mißverständnis Veranlassung gab; sie durfte deshalb nicht vom Schiff gehen, ohne ihm wenigstens ein freundliches Wort zu sagen. Unbefangen und mit ihrem milden, lieben Wesen, wie es ihr überhaupt eigen war, ging sie auf den jungen Mann zu, streckte ihm die Hand entgegen und sagte herzlich: »Leben Sie wohl, Steuermann. Ich danke Ihnen für alles Liebe und Gute, das Sie mir und meiner alten Kathrine auf der langen Reise erwiesen haben. Vergelten kann ich es Ihnen freilich nicht anders als nur mit Worten, aber sie sind ehrlich gemeint. Leben Sie wohl, und wenn Sie noch einmal an uns denken sollten, so lassen Sie es nicht in Groll sein, daß wir ungeschickten Frauen Ihnen so manchen Ärger bereitet haben.«

»Fräulein Bernold«, stammelte der Steuermann, der blutrot geworden war und die Worte kaum über die Lippen bringen konnte, die angebotene Hand aber nahm und so heftig drückte, daß Hedwig kaum ihren Schmerz verbergen konnte, »Gott schütze Sie in dem fremden Land, lasse es Ihnen gut gehen und Sie so treue Freunde finden, wie Sie – hier an Bord verlassen haben. Groll gegen Sie? Guter Himmel; das Schiff wird wie ausgestorben sein, wenn Sie fort sind, und ich – mag an die Zeit gar nicht denken.«

»Leben Sie wohl, Steuermann«, wiederholte das junge Mädchen, das vor der Heftigkeit des Mannes erschrak, und versuchte, ihre Hand aus der seinigen zu ziehen. Der Steuermann fühlte das aber kaum, als er sie verwirrt losließ.

»Leben Sie wohl, Fräulein Bernold«, sagte er noch einmal leise, drückte sich dann seinen Hut in die Augen und ging mit raschen und heftigen Schritten nach vorn – schämte er sich doch vor den Matrosen, die nicht sehen durften, daß ihm das Wasser in den Augen zusammenlief; sie hätten im Leben keinen Respekt wieder vor ihm gehabt.

Hedwig blieb, als er sie verlassen hatte, noch eine ganz Weile nachdenkend und überrascht auf ihrer Schwelle stehen; es überkam sie eine Ahnung, daß dieses merkwürdige, heftige Benehmen des Steuermannes ein weit tieferes Gefühl verrate, als er wohl bei dem Abschied eines gewöhnlichen Passagiers gezeigt haben würde. »Armer Steuermann«, seufzte sie dabei leise vor sich hin, »arme Hedwig!«

»Ja, aber, liebes Fräulein!« rief die alte Kathrine, die in diesem Augenblick ihre Gedanken und Träume unterbrach. »Sie stehen hier und sehe sich die alte Schiffsplanke an, auf dene wir das gesegnete halbe Jahr umhergetrampelt sin, und da driwwe lade se das ganze Boot voll Kiste und Kaste, daß kei Mensch mehr 'enein kann mit seinem Gepäck.«

Hedwig schrak empor und wollte nach dem Boot sehen, als ihr der Batavier schon zuvorkam.

»Ist das ein Passagierboot oder eine Prau?« sagte er finster, »und glaubt der fromme Herr vielleicht, daß es wichtiger und eiliger ist, seine Kisten mit wollenen Strümpfen und Unterröcken an Land zu schaffen als uns Passagiere mit ihrem nötigsten Gepäck?«

»Der Herr da ist zuerst bei der Hand gewesen, als das Boot anlangte«, sagte mürrisch der Untersteuermann, der wahrscheinlich ein gutes Trinkgeld von dem Geistlichen bekommen hatte, »und muß deshalb auch den Vortritt haben.«

»So?« sagte der Batavier ruhig. »Bloß weil er am unverschämtesten war? Das ist ein vortrefflicher Grund.«

»Ich habe den festen Kontrakt bei meiner Einschiffung mit dem Kapitän gemacht«, sagte der Geistliche ruhig, »daß ich unverzüglich, sobald das Schiff Anker geworfen hat, mit meinem Reisegepäck an Land gesetzt werde. Es ist auch nicht etwa meinetwegen, daß ich so dränge, aber Tausende von durstigen, verschmachtenden Seelen harren des Heils, das ihnen meine Worte bringen sollen, und jede Stunde – jede Minute, die ich hier vergeude und zögere, wird mir von dem Herrn da droben angerechnet werden und mein Schuldregister vergrößern.«

»Was Sie für Schulden haben«, sagte trocken der Batavier, »geht mich nichts an. Ihre Waren aber gehören in eine Prau, nicht in das Boot. Wenn Sie selber mitfahren wollen, soll uns Ihre Gesellschaft ganz angenehm sein; beabsichtigen Sie aber, sich nicht von Ihrem Gepäck zu trennen, so werden Sie wohl bis gegen Abend an Bord bleiben müssen, denn dreimal hintereinander können die armen Teufel nicht fahren.«

»Ein Teil meines Gepäckes ist unten«, entgegnete ruhig der Geistliche, »der andere wird nachfolgen, und wenn dann noch Raum ist, werde ich um Ihre Gesellschaft bitten. Ich fürchte aber, wir überladen das Boot dadurch zu sehr, und Sie werden deshalb die viel kühlere Fahrt am Abend vorziehen müssen.«

»Verdammt, wenn ich's tue!« rief aber der alte Herr gereizt und gleich darauf den Malaien eine Flut von Worten in ihrer Sprache hinunter, daß diese zögerten, noch ein Frachtstück an Bord zu nehmen.

»Ihr werdet einladen, was ich euch hinunterschicke!« schrie der Untersteuermann in das Boot hinab.

»Was gibt es da?« sagte in diesem Augenblick die ruhige Stimme des Steuermanns, der den Lärm gehört hatte und von vorn kam, um nach der Ursache zu fragen.

»Der fromme Herr dort«, rief der alte Batavier, »will uns zwingen, daß wir noch an Bord bleiben, damit er nur alle seine Kisten und Kästen auf einmal an Land bekommt.«

»Ich habe das Versprechen des Kapitäns.«

»Wem gehören all die Sachen, die da unten sind?« fragte ruhig der Steuermann.

»Mir«, erwiderte der Geistliche.

»Und was hier oben an Deck steht?«

»Das an dieser Seite mir.«

»Und dies wollten Sie alles mit ins Boot nehmen und die anderen Passagiere zurücklassen?«

»Mich treibt eine heilige Pflicht!« rief der Mann, dessen rotes Gesicht in diesem Augenblick noch viel röter wurde.

»Laßt die Haken hinunter und holt die Sachen wieder an Bord«, sagte der Steuermann ruhig und ohne den Blick von dem Boot zu wenden, denn er fürchtete, Hedwigs Auge wieder zu begegnen.

»Meine Sachen, die unten sind?« rief der Passagier erschrocken. »Was unten ist, darf nicht mehr angerührt werden.«

»Soll ich's noch einmal sagen?« wiederholte langsam der Steuermann, der in Abwesenheit des Kapitäns dessen Stelle vertrat. »Nur seinen Koffer und die Reisesäcke laßt unten, das übrige bleibt hier. Eilt euch ein wenig.«

Es bedurfte keiner weiteren Worte. Die Malaien, die schon aus der vorhergehenden Anrede einen ihrer gefürchteten »Tuwans« vom Festland erkannt hatten, waren nur zu bereitwillig, diesem zu gehorchen, und weit rascher als sie hinuntergeschafft worden waren, lagen die Kisten wieder oben auf Deck, den Weg versperrend.

Ein paar den Matrosen zugerufene Worte beorderten sie jetzt zu dem Gepäck der jungen Dame, das sämtlich hinabgelassen wurde. Der alte Batavier erklärte, heut abend nur einen kleinen Koffer mitnehmen zu wollen, das andere dann morgen früh selber zu holen. In kaum zehn Minuten war das alles geordnet und hinabgeschafft – Hedwig, von zwei Malaien dabei unterstützt, hatte ihren Platz im Boot mit Kathrine an ihrer Seite eingenommen. Ihr folgte der alte Batavier und zuletzt erst mürrisch und verdrossen Herr Holderbreit, der Geistliche, den es besonders kränkte, daß er seinem Ärger nicht in für seinen Stand doch unpassenden Worten Luft machen durfte.

Der Steuermann war vorn auf den Bulwarks stehengeblieben, um das Ganze zu überwachen, und erst als er alles sicher unten im Boot und dieses von Bord abgestoßen dem Land zurudern sah, wandte er sich ab. Er hatte vielleicht gehofft, daß Hedwig noch einmal den Kopf nach ihm wenden, ihn noch einmal grüßen würde – umsonst. Das Herz des armen Mädchens war von anderen Gedanken erfüllt, und mit klopfenden Schlägen wandte es sich dem Land zu, wo sein künftiges Schicksal jetzt entschieden werden sollte. Der Steuermann hatte sich abgewandt und lehnte am entgegengesetzten Bord, um auf die See hinaus zu sehen, wo hier und da einzelne kleine Inseln aus der monotonen Fläche am Horizont emporstiegen und eine Menge seltsam geformter und aufgeblähter Segel auf dem Wasser schwammen, aber er hielt es nicht lange aus. Das Herz zog ihn zu dem einen Punkt zurück, und in seine Kajüte hinuntersteigend, nahm er das Teleskop und schaute durch das kleine dort befindliche Fenster so lange hinter dem davonrudernden Fahrzeug drein, bis es zwischen den verstreut ankernden Schiffen in der Einfahrt des Kanals verschwunden war.


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