Friedrich Gerstäcker
Unter dem Äquator
Friedrich Gerstäcker

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

»Und was ist das dort drüben – das hohe, schlanke Gestell mit einem Korb oben daran? Eine Art Leiter wie eine Hühnersteige führt daran hinauf.«

»Ah, dort! Das ist eine Reiswache, mein Herz, und passen Sie auf, wenn wir vorüberfahren, wie der kleine darin sitzende Junge die Reisvögel aus den umliegenden Feldern scheucht.«

»In dem Korb sitzt ein Mensch?« rief aber auch jetzt die Kathrine, die bis zu diesem Augenblick vor lauter Verwunderung noch keine Silbe gesprochen hatte.

»Ja, allerdings«, lächelte Mevrouw, »wenn auch nur ein ganz kleiner, aber er ist doch groß genug, um die Schnüre anzuziehen, die von da oben aus in die Felder hinauslaufen, und sehen Sie, wie da drüben ein ganzer Schwarm von Vögeln aufsteigt und über die Straße hinüberstreicht, weil der Junge mit seinen Fäden die dort angebrachten Vogelscheuchen in Bewegung gesetzt hat.«

»Aber nu breche se dem Nachbar in sei Reis«, meinte die Kathrine.

»Das tun sie allerdings«, lautete die Antwort, »aber der mag andere Klappern anbringen, um sie ebenso zu empfangen und weiterzuschicken.« Sie fuhren jetzt dicht neben dem Reiswachturm vorbei, der wirklich nur aus einem auf langen Bambusstangen aufgerichteten Korb bestand. Von oben aus liefen aber Schnüre oder Fäden zu beweglichen Flederwischen und Klappern hinüber, die mitten in den Feldern standen, und, wenn sie angezogen wurden, sich hin und her bewegten oder ein Geräusch machten. Ehe sie aber das alles nur halb betrachten konnten, flogen die Wagen auch schon mit schwindelnder Schnelligkeit daran vorüber, und die Kathrine vergaß in der neuen Überraschung, die ihr hier wieder bereitet wurde, die ganze Szenerie um sich her. Plötzlich nämlich sprangen die Malaien, die hinten auf dem Wagen und auf besonders dazu angebrachten niedrigen Austritten standen, von ihrem Gestell herunter, griffen, während sie mit fabelhafter Schnelligkeit nebenher liefen, im Weg liegende Steine auf und warfen sie von beiden Seiten mit einem wahren Zetergeschrei auf die Pferde. Aber weshalb? Nicht die geringste Veranlassung dazu sah weder die Kathrine noch Hedwig, denn die kleinen Tiere hatten bis jetzt schon ihr möglichstes getan, und daß sie, wo der Weg ein wenig zu steigen anfing, auch etwas langsamer gelaufen waren, konnte ihnen eben niemand verdenken. Mevrouw aber, mit dem Leben und Treiben hier schon besser bekannt, hatte bald die Ursache entdeckt. Vor ihnen fuhr nämlich ein anderer Wagen, auch mit vier Pferden bespannt und Fremden darin, und bei Kutscher wie Treibern war es zur Ehrensache geworden, diese zu überholen – was kümmerten sie die Pferde.

Der vordere Wagen hatte indessen ebenfalls die hinter ihm herkommenden beiden Fuhrwerke gehört, denn die Burschen machten mit ihrem Schreien Spektakel genug. Natürlich wollten sich jene aber nicht gern überholen lassen, und dort begann jetzt genau dasselbe Toben und Wüten wie hier. Der Kutscher hieb auf die Pferde ein, die Boedjangs zu beiden Seiten heulten und schrien und warfen Steine und Holzstücke – was sie nur eben erreichen konnten – auf die Pferde und schlugen nach ihnen mit kleinen kurzen Peitschen, die sie im Gürtel trugen, bis sie die armen Tiere fast bis zur Raserei getrieben hatten. Der Schweiß lief ihnen an den glänzenden Haaren nieder, der heiße Dampf stieg ihnen aus den Nüstern, und sie gingen mit dem Wagen durch, so rasch sie rennen konnten. Weiter wollten ihre Peiniger aber auch gar nichts – wenn sie sich nur auf der Straße hielten – und sowie sie die armen abgehetzten Tiere in vollster Flucht hatten, waren sie mit einem geschickten Satz wieder auf ihrem Stand, um jetzt selber nur erst einmal zu Atem zu kommen und einen Augenblick zu verschnaufen. Ob unsere Freunde nun wirklich bessere Pferde hatten, oder ob ihre Javanen besser, das heißt erbarmungsloser mit ihnen umzugehen wußten, kurz, die beiden hinteren Wagen rückten dem vorderen näher und näher, und gerade als es in der jetzt mehr wellenförmig werdenden Straße einen kleinen Abhang hinaufging, von allen drei Geschirren die Treiber unten waren und mit Schreien und Steinewerfen wie außer sich schienen, rasselten van Straatens mit ihren Gästen an dem Fuhrwerk vorüber, in dem vier holländische Offiziere saßen. Da sie zu gleicher Zeit eine der kleinen Dessas passierten, kamen bei dem furchtbaren Geschrei auch die Eingeborenen aus allen Hütten herausgestürzt, bei diesem Lärm das Entsetzlichste vermutend.

Hedwig wie die Kathrine konnten sich natürlich in dieser überraschend neuen Welt noch gar nicht sammeln – war ihnen doch alles fremd, alles auffallend und ungewohnt, und sie bedurften erst einer gewissen Zeit, sich da hineinzufinden. Den vollen Gegensatz zu ihnen bildete jedoch der vordere Wagen, in dem die drei Herren, ihre Zigarre im Mund, so behaglich zurückgelehnt saßen und so gleichgültig die ganze Außenwelt an sich vorübergehen ließen, daß man es ihnen wohl ansah, sie begegneten hier keinen neuen, sondern nur altgewohnten, alltäglichen Szenen. Nicht einmal bei der Wettfahrt mit dem anderen Wagen drehten sie auch nur den Kopf nach diesem Heidenlärm, sondern bliesen den Dampf in die blaue Luft hinein und erzählten sich Anekdoten aus den Kreisen, in denen sie sich in der letzten Zeit bewegt hatten. Nur als sie den Wagen mit den Offizieren überholten, sahen sie hinüber und grüßten sich gegenseitig.

»Da drin sitzt auch Ihr Hauptmann Bernstoff«, lachte Lockhaart zu Wagner hinüber. »Was zum Henker treiben die Vents denn! Ob sie Urlaub genommen haben?«

»Nein«, sagte van Straaten; »Wie ich gehört habe, ist gestern ein Trupp frischer Rekruten nach Buitenzorg abmarschiert, und die Herren haben ihnen wohl nur den gehörigen Vorsprung gelassen, um in größtmöglicher Bequemlichkeit nachfahren zu können. Den Soldaten schadet es weit weniger, wenn sie in der Sonne marschieren müssen, als den Offizieren.«

»Sie haben recht, wenn sie sich's bequem machen, solange es geht«, meinte Lockhaart, »kommen sie nachher nach Sumatra in die Sümpfe und unter die vergifteten Pfeile der Badaks, so wird ihnen doch nichts geschenkt.«

»Dann sind sie aber nachher so verwöhnt«, bemerkte Wagner, »daß sie den geringsten Strapazen erliegen.«

»Papperlapapp«, lachte der alte Lockhaart, »das ist der gewöhnliche Alteweiber-Glauben, daß man sich von Jugend auf ordentlich abhärten müsse, um später irgend etwas ertragen zu können – und wie bin ich selber zum Beispiel verhätschelt worden. Wer überhaupt sonst gesund ist, soll sich das Leben um Gottes willen nicht unnötigerweise schwer machen, nur um Bedürfnisse entbehren zu können, wenn er sie einmal nicht haben kann. Tritt der Fall wirklich ein, entbehrt er sie doch, darauf geb' ich Ihnen mein Wort, ob er nun daran gewöhnt ist oder nicht. Auch wenn ich das ganze Jahr auf einem Brett schlafe, wird mir der Erdboden deshalb nicht weicher, falls ich einmal darauf kampieren muß. Nein, solange ich es haben kann, schlafe ich in einem weichen, bequemen Bett und esse und trinke gut; muß ich es dann einmal entbehren, so hab' ich auch Selbstüberwindung genug, das ohne Murren zu ertragen, und zwar ohne mich schon jahrelang vorher ganz unnötigerweise kasteit zu haben.«

Lustig rollten die Wagen vorwärts und ließen das Fuhrwerk mit den Offizieren bald weit zurück. Jetzt flogen sie, von den unermüdlichen Pferden in wildester Flucht fortgezogen, durch ebene sonnbeschienene Reisfelder, in denen hier ein Javaner mit seinem trägen Karbau den Schlamm umwühlte, um das Feld zur Saat zurecht zu machen, während dicht daneben eine Schar halbnackter Mädchen mit einem kleinen sichelartigen Messer den reifen Reis erntete und in feste, dichte Garben band. Nun kreuzten sie eine der kleinen, zauberhaft schönen und schattig kühlen Dessas mit ihren lauschigen Palmenhainen, aus denen die kleinen lustigen Bambusgebäude so zierlich und sauber gebaut hervorschauten, als ob sie nur als Putz oder Spielzeug dort aufgestellt seien. Immer wellenförmiger wurde dabei das Land; immer mehr näherten sie sich den gewaltigen feuerspeienden Bergen, die sich als Rückgrat der ganzen Insel von West nach Ost hinüber dehnen. Schon ließ sich der Gedé klar und deutlich mit seinem rauhen Kraterjoch erkennen, und der Megamendong, oder Wolkenumhüllte, versteckte seinen Gipfel in einem weißen Hauch, der von dem feurigen Nachbarn zu ihm herübergezogen war. Immer deutlicher wurden aber jetzt auch die dichtbewaldeten Ausläufer dieser Vulkane, die sich, mit prachtvollen Wäldern bedeckt, strahlenförmig in das flache Land hinauszogen, und endlich lenkten sie wieder in reizende Gärten ein, in Alleen von Tamarinden und pahon HaïvePahon Haïve: Eine prachtvolle, riesige Akazienart mit brennend roten und steinharten Kernen. und zwischen die bequemen und luxuriös gebauten Häuser der Europäer.

Gerade als sie einen chinesischen Tempel und das chinesische Viertel von Buitenzorg passiert hatten, das ziemlich denselben Charakter zeigte wie das batavische, überholten sie einen Trupp Soldaten, die eben Halt gemacht und sich in den Schatten der Bäume geworfen hatten, um von dem heißen Marsch nur kurze Zeit zu rasten.

Eine seltsame Mischung von Leuten war das, Malaien und Javanen, Neger, Mulatten und Weiße, bunt durcheinandergemischt, in ihren blauen, heißen Uniformen – die Eingeborenen und Neger alle barfuß, die Weißen aber mit Schuhen an. Auch von dem benachbarten chinesischen Viertel hatte die dortige unternehmende Bevölkerung schon ihre Boten abgesandt, um den armen Teufeln gegen ein paar dürftige Erfrischungen, die ihnen verlockend vorgehalten wurden, auch die letzten Deute fortzuholen. Langzöpfige Burschen in weiten blauen Jacken und kurzen weißen Hosen, ein paar große Körbe an einem langen Bambusstock über der Schulter balancierend, liefen von allen Seiten herbei, um Scheiben Ananas, Arensaft und andere unschuldige und kühlende Dinge öffentlich zum Verkauf auszubieten. Heimlich in ihren Körben trugen sie aber noch sorgfältig versteckte Flaschen mit verbotenem Arrak, der ihnen schon deshalb, weil er verboten war, viel besser und teurer bezahlt wurde.

Einige der Soldaten, die mitten im Weg standen, waren beiseite getreten, als die beiden Wagen heranrollten, andere lagen im Schatten der Bäume abseits und schienen zu sehr ermüdet, um auf die rasch vorbeifahrenden Geschirre zu achten. Unter diesen war auch ein junger Mann mit vollem schwarzen Haar, der, die Dienstmütze neben sich und mit der Faust zusammengeballt, den Kopf in die andere Hand gestützt, ausgestreckt unter einem Baum lag. Mit triefender Stirn und finster zusammengezogenen Brauen lehnte er mit dem Rücken gegen die rauhe aufgebogene Wurzel einer Tamarinde und drehte nur, wie unwillkürlich, den Kopf dem Geräusch der rollenden Räder zu. Ehe er sich ihnen nur richtig zugewandt hatte, war der erste Wagen schon vorüber, und die lichten Kleider im zweiten zogen noch seinen Blick auf sich, als er plötzlich mit einem kaum unterdrückten Schrei emporsprang. Aber der Wagen war vorüber – in der Ferne wirbelte noch der Staub auf, und stumm und staunend starrte er den Verschwindenden wie einer wunderbaren Erscheinung nach. Doch auch dies dauerte nicht lange.

»Wahnsinn! Wahnsinn!« murmelte er leise vor sich hin. »Ebensogut könnte ich erwarten, ihr droben im Mond zu begegnen, wie hier in Indien in einer eleganten Equipage. Eine Ähnlichkeit, weiter nichts. Ist auch nur wieder einer von den Streichen meines bösen Geschicks, mir die Erinnerung an vergangene Torheiten, wenn ich sie beinah schon einmal vergessen hätte, immer aufs neue frisch und lebendig vorzufahren. Nur zu, nur zu! Ich muß jetzt wohl stillhalten, denn den tollsten hab' ich eben begangen, in den tollsten und verzweifeltsten bin ich eben mit beiden Füßen, und anscheinend bei vollem Verstand, hineingesprungen – für den muß ich erst einmal büßen, ehe ich mich mit einer anderen Abrechnung befassen kann.«

Die Damen im zweiten Wagen hatten ebenfalls das Militär bemerkt, und einen Moment, als ihr Fuhrwerk daran vorüberrollte, die seltsamen und malerischen Gruppen betrachtet, wie die Soldaten unter den Bäumen ausgestreckt lagen und chinesische Verkäufer zwischen ihnen hin und hergingen. Das war aber auch wirklich nur ein Moment gewesen, denn gleich darauf bogen sie schon, am botanischen Garten mit seinen Palmenreihen vorüberfahrend, in die Straße ein, die zum Hotel Bellevue hinüber führte, und während die schäumenden Tiere in dem weiten, von niedrigen Gebäuden umschlossenen Hof hielten, kamen die Herren zum Wagen, um den Damen herauszuhelfen und sich besonders bei Hedwig zu erkundigen, wie ihr die Fahrt bis hierher gefallen habe. In BuitenzorgBuitenzorg (außer Sorge) ist das bei Batavia gelegene nächste Hochland; deshalb wurde dort schon im Jahre 1745 von Baron Imhoff, dem damaligen opperlandsvoogt, ein Sommerpalast errichtet. Die indische Regierung sprach den Platz dem jeweiligen Gouverneur zu, und jetzt ist ein reizendes Palais mit einem botanischen Garten dort entstanden, wie er sich kaum in der Welt wiederfindet. Der botanische Garten wurde durch den Generalgouverneur van der Capellen angelegt; Baron Imhoff aber gab schon dem ganzen Ort den Namen Buitenzorg, der früher und auch jetzt noch von den Eingeborenen bogor genannt wird. sollte übrigens Station gemacht und ein oder zwei Tage Rast gehalten werden, um das Sehenswerte auch wirklich mit Muße zu betrachten. Erst nachdem sie alles gesehen hatten, wollten sie den weiteren Weg in aller Bequemlichkeit wieder aufnehmen.


 << zurück weiter >>