Friedrich Gerstäcker
Unter dem Äquator
Friedrich Gerstäcker

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32. Marie van Romelaer verlobt sich. – Salomon Holderbreits Bitte um Fürsprache

Etwa acht Tage waren nach den vorher beschriebenen Szenen verflossen, und die diesmal regelmäßige Ankunft der Monats-Mail – oder des monatlichen Dampfers – brachte wieder reges Leben in die Geschäftswelt Batavias. Den ersten Morgen nach Ankunft der Korrespondenz hatte wohl auch keiner der Kaufleute einen anderen Gedanken, als seine Briefe durchzulesen und die erhaltenen oder zu erteilenden Aufträge zu überdenken. An demselben Abend aber war auch schon das Wichtigste angeordnet und abgemacht; die verschiedenen Kommis hatten ihre Aufträge bekommen, und das Ganze ging schon wieder seinen geregelten Gang, wenn dieser auch noch überwacht werden mußte.

Mit der Mail war auch ein kleines Paket für Wagner aus Europa angekommen, ein Geschenk, das er für Marie van Romelaer bestimmt hatte. Gestern war es ihm unmöglich gewesen, hinauszufahren, heute aber mußte sich Zeit dazu finden. Es traf sich sogar heut, daß ihr Geburtstag war, und den Tag durfte er doch nicht versäumen. Aber er ging nicht mit leichtem Herzen; denn seit jenem Morgen, an dem Marie so leidenschaftlich war, hatte er sie nicht wieder gesehen. Seit jenem Morgen war ihm, so oft er auch dort anklopfte, ihre Tür verschlossen geblieben, und selbst der alte Romelaer schien etwas gegen ihn auf dem Herzen zu haben, was ihn drückte und störte und das alte freundschaftliche Verhältnis noch nicht wieder aufkommen ließ. So geduldig er das nun auch die ganze Woche ertragen hatte, so fest war er entschlossen, dem heute ein Ende zu machen. Allerdings stieg zuweilen der Verdacht in ihm auf, daß Marie vielleicht gar auf die Fremde eifersüchtig gewesen wäre – lieber Gott, und wie geringe Ursache hatte sie dazu –, doch blieb es immer möglich. Jetzt aber mußte sie sich doch auch vom Gegenteil überzeugt haben, denn seit Hedwig Bernold zu van Straatens übergesiedelt war, hatte er absichtlich noch keinen Fuß dort über die Schwelle gesetzt. Erst wollte er vor allen Dingen mit Marie wieder Frieden geschlossen haben, ehe er der schönen, unglücklichen Fremden aufs neue gegenübertrat.

Und doch war es nicht das alte freudige, durch keinen Schatten getrübte Gefühl, mit dem er jetzt an Marie dachte. Wie er sich auch ihr Bild in all seinem Glanz, in all seiner Jugendfrische und Unschuld ausmalen mochte, immer und immer wieder störte ihn die Erinnerung an den Augenblick, in dem er sie zuletzt sah. Immer wieder erschreckte ihn aufs neue jener dämonische Ausdruck in ihren Zügen, der ihm seit der Zeit schon manche, manche unruhige Stunde bereitete. Er hatte sich zuletzt ordentlich zwingen müssen, nur das Schlimmste zu vergessen, denn er betrachtete sich, wenn auch noch nicht durch feste Zusage, doch durch stillschweigendes Übereinkommen an Marie gebunden. Aber er zweifelte dabei auch nicht im geringsten, daß er das junge Mädchen, sobald er es nur einmal Frau nennen durfte, von all diesen heftigen und unweiblichen Leidenschaften kurieren könne. Schon ihm zuliebe mußte sie sich ändern, und wenn sich zwei Menschen auf der Welt nur recht ernsthaft und von Herzen liebhaben, so kann ja gar nichts störend oder, noch schlimmer, feindlich zwischen sie treten. Jedenfalls mußte er ihr heute das für sie bestimmte Geschenk bringen – heute morgen hatte er nicht kommen können, aber den Abend durfte er ebensowenig versäumen, und gleich vom Geschäft aus nahm er das kleine, zierliche Etui, das einen reizend gearbeiteten Schmuck enthielt, in seinen Wagen, ließ Herrn Nitschke mit den Briefen und sonstigen Arbeiten nach Haus zum Essen fahren, wobei er ihm versprach, spätestens um acht Uhr wieder bei ihm zu sein, und fuhr dann, so rasch die Pferde nur laufen konnten, zu Romelaers hinaus.

In den bequemen Sitz zurückgelehnt, den Kopf in die Hand gestützt und ganz in seine freundlichen Gedanken vertieft, achtete er auch gar nicht darauf, wer ihm begegnete. Nur sein Wiedersehen mit Marie malte er sich aus. – Lieber Gott, die acht Tage, die er ohne sie verbrachte, kamen ihm schon ewig lang vor – und wie sie ihn wohl empfangen und begrüßen würde? Eine Carreta fuhr dicht an ihm vorbei, und ein darin sitzender Malaie, der einen mächtigen Blumenstrauß vorn an der Jacke trug, rief etwas herüber und winkte Wagner zu. Der aber sah ihn gar nicht, und da er seinem Kutscher auch keinen Befehl zum Halten erteilte, fuhr dieser ruhig weiter. Überhaupt waren sie kaum noch fünfhundert Schritt von Romelaers entfernt. Die Carreta lenkte aber rasch um und fuhr wieder hinter ihm drein. Schon konnten sie in der Ferne Romelaers Anwesen erkennen, als sie Wagners Bendi wieder überholte und der darin sitzende Malaie dem jungen Mann ein rosafarbenes, süß duftendes Briefchen überreichte. Ehe Wagner ihn aber nur etwas weiteres fragen konnte, lenkte das leichte Fuhrwerk schon wieder um und war wenige Sekunden später zwischen all den übrigen Wagen verschwunden. Der junge Deutsche hatte indessen Zeit genug gehabt, den Boten zu erkennen, der, wie er recht gut wußte, in van Romelaers Diensten stand. Das kleine Billet war von ihr – es enthielt jedenfalls eine Einladung auf heut abend, und so häßliche, ungerechte Gedanken hatte er sich indessen schon über Maries Starrsinn gemacht? Während er seinem Kutscher das Zeichen gab, weiterzufahren, und der leichte Bendi rasch dem Romelaerschen Grundstück entgegenrollte, öffnete er das zierliche, duftende Billett, das nur eine einzelne Karte enthielt. Er nahm sie heraus und las darauf die beiden Namen:

Marie van Romelaer
Kapitän Karel Bernstoff

mit der einen Unterschrift: »empfehlen sich als Verlobte«.

Wagner starrte auf das kleine Blatt, als ob es eine Art von bösem Zauber auf ihn ausübe; in der Tat vergaß er ganz dabei, wo er sich befand, wohin er fuhr, und ehe er sich soweit sammeln konnte, um nur aufzuschauen, bog sein Fuhrwerk in Romelaers Garten ein, rasselte durch die Allee von zierlichen Arekapalmen und hielt wenige Sekunden später vor dem Portal. Der junge Mann wollte, als er zuerst aufsah und sich dicht vor dem Haus fand, das er jetzt vor allem anderen am liebsten gemieden hätte, rasch wieder umkehren lassen, aber – es ging nicht mehr. Nicht allein war er schon von mehreren Dienstleuten bemerkt worden, nein, selbst im Haus hatte man ihn gesehen oder doch wenigstens gehört, daß ein Fuhrwerk hielt. Was hätten die Leute davon denken sollen, wenn er jetzt vor ihnen geflohen wäre? Es blieb ihm auch nicht einmal eine Wahl – gerade die, die er am liebsten heute vermieden hätte, sprang ihm mit raschen, fröhlichen Schritten entgegen: Marie stand im nächsten Augenblick auf den oberen Stufen der Treppe und wollte lachend die Hand nach dem Bendi ausstrecken, als sie Wagner darin erkannte und erbleichend einen Schritt zurücktrat.

Dieses Erschrecken gab aber Wagner vollständig sich selber wieder. Es durfte niemand ahnen, daß er vollkommen gegen seinen Willen hier vorgefahren war; der Spott darüber würde sonst kein Ende genommen haben. In seinem ganzen Wesen überhaupt ernst und gesetzt, hatte er auch mit diesem Gefühl schon wieder seine volle Ruhe und Sicherheit gewonnen. Mit freundlichem Gruß gegen die junge Dame, die noch gar nicht wußte, ob sie den unerwarteten Besuch fliehen solle oder nicht, ja noch nicht einmal wieder die Fähigkeit erlangt hatte, sich von der Stelle zu bewegen, sprang er aus dem Wagen, rief dem Kutscher zu, hier auf ihn zu warten, und stieg langsam die Stufen hinauf. Die eben erhaltene Karte hatte er im Wagen liegen lassen, und das Etui in der Hand, schritt er auf Marie zu.

»Herr Wagenaar«, stammelte Marie, die nicht anders glauben konnte, als daß er ihre Verlobungskarte noch gar nicht erhalten habe, »ich – weiß nicht...«

»Liebes Fräulein«, unterbrach sie aber der junge Deutsche, all ihren Zweifeln rasch ein Ende machend, »Sie scheinen, wenn ich nicht irre, jemand Lieberes, statt meiner, erwartet zu haben, und ich bin unschuldigerweise die Ursache einer Enttäuschung gewesen. Zürnen Sie mir nicht deshalb; ich werde gleich dem – anderen Platz machen, wollte mir nur vorher nicht versagen, Ihnen meine aufrichtigen Glückwünsche, wie noch etwas anderes zu bringen, das schon seit langen, langen Monaten für Sie bestimmt und unterwegs war.«

»Herr Wagenaar...«, wiederholte Marie noch einmal, während glühende Röte ihre Züge übergoß; aber Wagner ließ sie nicht zu Wort kommen, was hätten sie beide sich auch noch, nach der erhaltenen Karte, zu sagen gehabt.

»Ich hatte gehofft«, fügte er mit unterdrückter Stimme hinzu, indem er das Etui in ihre Hand legte, »daß Sie den Inhalt als meine Braut tragen sollten, und für diese Bitte den heutigen Tag bestimmt – Ihre Karte hat mir eine schmerzliche Abweisung erspart. So leben Sie denn glücklich, Marie; mögen Sie an Bernstoffs Seite den Frieden und das häusliche Glück finden, das Sie mir nicht gestatten wollten, Ihnen zu bereiten. Vergessen Sie mich dabei, aber seien Sie zugleich versichert, daß ich selber nie mit Groll an Sie zurückdenken werde. Leben Sie wohl, liebe Marie, Gott beschütze und behüte Sie!«

Mit diesen Worten nahm er ihre rechte Hand, drückte sie achtungsvoll und ganz leicht an die Lippen, machte der jungen Dame dann eine sehr förmliche Verbeugung, stieg die Treppe wieder hinunter und war, ehe sich Marie nur von ihrer Überraschung erholen konnte, in seinem Bendi und draußen vor dem Garten, die Straße rasch hinabfahrend. So bestürzt aber Marie van Romelaer über diesen unerwarteten Besuch Wagners und mehr noch über das Geschenk sein mochte, das er in ihren Händen zurückließ, so zufrieden war Wagner selber über die Art, wie er sich hier aus der Affäre gezogen hatte.

Recht von Herzen hatte er Marie geliebt und gehofft, einst an ihrer Seite ein frohes und glückliches Leben zu führen, denn er hielt sie für den Inbegriff aller weiblichen Tugenden. Dieser Glaube bekam aber schon durch ihr damaliges heftiges Betragen einen argen Stoß, und konnte sie sich jetzt, wie ihm die Karte bewies, auf so leichte, ja leichtfertige Weise für immer von ihm losreißen, so zweifelte er auch sehr, ob sie ihm je recht von Herzen gut war. In diesem Fall war es dann viel besser, daß alles so kam, wie es sich jetzt herausstellte. Stets äußerst praktisch in seiner ganzen Lebensweise, versuchte er das unangenehme, ja schmerzliche Gefühl, das sich ihm immer wieder aufdrängen wollte, soviel wie möglich von sich abzuschütteln. Die Sache war geschehen und nichts mehr daran zu ändern, weshalb also sich noch ganz unnötigerweise trübe Gedanken deshalb machen.

Er sah nach seiner Uhr; es fehlte noch eine Stunde an der Zeit, die er Herrn Nitschke angegeben hatte, um mit ihm in seiner Wohnung zusammenzutreffen und die nötigen Arbeiten dort vorzunehmen. Was also machte er inzwischen? Er befand sich nicht so sehr weit von van Straatens Wohnung entfernt, und die Artigkeit erforderte schon, daß er dort endlich einmal nachfragte, wie es ihrem neuen Gast gefiele, wie sie selber mit ihm zufrieden seien. Außerdem rückte die Zeit heran, in der sich auch Fräulein Bernold entscheiden mußte, ob sie noch länger auf Java bleiben oder nach Deutschland zurückkehren wolle; es war deshalb nötig, daß er mit ihr selber darüber sprach, und seinem Kutscher die nötige Anweisung gebend, lenkte dieser in eine Querstraße ein, die zu van Straatens Wohnung führte.

Dort saß indessen der alte Lockhaart, Hedwigs Reisegefährte von Amsterdam aus, allein in dem unteren luftigen Salon. Obgleich es draußen noch hell genug war, hatte er sich doch hierher eine Lampe bringen lassen, und während eine Menge holländische, englische und französische Zeitungen Tische und Stühle um ihn her bedeckten, studierte er, den Kopf in beide Hände gestützt und das Licht der Lampe voll auf seinen harten, aber ausdrucksvollen Zügen, einen vor ihm liegenden Brief, den er, so oft er ihn schon durchgelesen hatte, immer wieder von neuem begann. Er hatte es sich dabei schon wieder ganz bequem gemacht, mit Cabaye und Schlafhose, die bloßen Füße in feingeflochtenen chinesischen Pantoffeln. Er rauchte auch, hatte aber sämtliche Diener mit ihren Lunten hinausgejagt und neben sich, auf einem bootartigen lackierten Gestell, eine der chinesischen wohlriechenden Glimmkerzen liegen, an der er dann und wann seine Zigarre wieder anzündete. Ganz in seine Lektüre des Briefes vertieft, saß er da, als er plötzlich schwere Tritte neben sich mehr fühlte als hörte. Rasch aufschauend, erkannte er aber eine Gestalt, die er so erstaunt betrachtete, als ob er einen Geist sähe, und mit den eben nicht einladenden Worten empfing:

»Wie sind Sie denn hier hereingekommen? Sapáda!« schrie er dann, ehe der Fremde auch nur eine Silbe zu seiner Entschuldigung vorbringen konnte. »Sapáda! Wo steckt das Gesindel? He, ihr Schlingel! wozu seid ihr denn da, als draußen aufzupassen und etwaige Fremde anzumelden, he? Habt ihr schon wieder vergessen, daß man euch erst sagen muß, ob man die Leute annehmen will oder nicht, damit einem nicht jeder typische Ochse ohne weiteres in das Zimmer hereinbricht? Jetzt wieder hinaus mit euch, und Gnade euch Gott, wenn ich euch wieder einmal auf der faulen Haut erwische.«

Die Malaien, die bei dem ersten Ruf schon von allen Seiten herbeigesprungen waren, blieben scheu am Eingang stehen. Sie fürchteten den strengen Tuwan entsetzlich, obgleich er noch keinem von ihnen etwas zuleide getan hatte. Bestürzt sahen sie auch den Fremden an, denn sie konnten ja nicht wissen, daß er noch nicht so viel Malaiisch sprach, um die für ihn eben nicht schmeichelhafte Rede zu verstehen. Bei den letzten Worten fuhren sie aber auch wieder wie der Blitz zur Tür hinaus, vor der sie jetzt nur in Rufnähe blieben – falls sie noch einmal verlangt werden sollten.

»Ich muß sehr um Entschuldigung bitten«, sagte der Fremde – niemand anderes als unser alter Bekannter Salomon Holderbreit –, »wenn ich vielleicht gestört habe. Das lag nicht in meiner Absicht. Ich komme vielmehr mit einer Bitte an meinen alten Reisegefährten.«

»Und was wünschen Sie?« lautete die kurze, nicht eben freundliche Frage des alten Herrn, der nicht einmal daran dachte, seinem Gast einen Stuhl anzubieten.


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