Friedrich Gerstäcker
Unter dem Äquator
Friedrich Gerstäcker

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Es war eine eigenartige, merkwürdige Veränderung, die in den sonst so harten Zügen des alten Mannes vorging. Zu überraschend wirkte die Neuigkeit auf ihn, und der lächelnde Ausdruck um Wagners Lippen ließ ihn sogar zu Anfang glauben, daß das Ganze nur ein Scherz sei, oder – er wußte selbst nicht, was ihm alles in dem Moment durch den Sinn fuhr. Aber Hedwigs verschämtes Erröten wie auch Wagners offene, vor Glück strahlende Augen konnten ihn nicht länger in Zweifel lassen.

»Und ist es wahr?« sagte er leise, »haben Sie das arme, verlassene Kind in Ihren Schutz genommen, Wagenaar, und wollen Sie ihm ein treuer, ehrlicher Begleiter sein durchs ganze Leben?«

»Das will ich!« sagte Wagner mit tiefer Rührung in der Stimme, indem er einen Kuß auf Hedwigs Stirn drückte.

Der alte Mann stand still und innerlich bewegt vor ihnen. Er hatte die Hände zusammengeschlagen und schaute mit tiefer Rührung auf das junge Paar. Endlich ging er auf Hedwig zu, strich ihr die Haare aus der Stirn und sagte herzlich: »So nehmt auch meinen besten Segen auf euren Lebensweg. Was ich mir ausdachte, es hat nicht sein sollen, aber ich fühle, daß es zu Ihrem Vorteil und Glück so gekommen ist, mein liebes, tapferes Kind. Seien Sie auch versichert, daß von diesem Augenblick an Ihre Sorgen aufgehört haben. Sie bekommen einen tüchtigen Mann, und der alte Lockhaart steht noch nebenbei am Weg und wird mit Rat und Tat helfen, wo er irgend kann.«

»Sie waren, seitdem ich dieses Land betreten habe, immer so lieb und gut gegen mich«, sagte Hedwig, bewegt seine Hand ergreifend.

»Und auf dem Schiff ein Flegel, nicht wahr?« lachte der alte Herr, der sich seine Rührung nicht anmerken lassen wollte. »Pst, pst, pst – es hatte alles seinen Grund, alles seine Ursache, aber die Zeit ist jetzt vorbei, und nun – na ja, da haben wir's; da kommt der langweilige Missionar. Laßt ihn nichts merken, Kinder, tut es mir zu Gefallen –«

»Aber van Straatens –« sagte Wagner.

»Meinem Schwager erzähl' ich die ganze Geschichte unterwegs, und ihr beide habt ebenfalls Zeit, meine Schwester damit zu überraschen, wenn ihr in die Berge fahrt.«

»In die Berge?« sagte Wagner erstaunt, »ich dachte, ich sollte Sie begleiten.«

»Ja, das dachte ich auch«, lachte Lockhaart; »wenn man aber solche Streiche am frühen Morgen macht, hört natürlich jede Berechnung auf. Sie bleiben jetzt, wie sich das von selbst versteht, bei den Damen, während ich meinen Schwager mit hinunternehme, um die Sache in Ordnung zu bringen. Auf dem Rückweg könnt ihr euch dann meinetwegen schon in Buitenzorg trauen lassen, wenn ihr eben nicht länger als Brautleute in Batavia leben wollt. Doch still, da ist der Schwarzrock; am Ende könnten wir den gleich hier dazu verwenden. Nun, nun, es war ja nur ein Scherz«, lachte er gutmütig, als Hedwig eine erschrocken abwehrende Bewegung machte. »Das Ganze muß auch mit einiger Feierlichkeit ins Werk gesetzt werden, wenn es den richtigen Eindruck machen – ah, guten Morgen, Mynheer Holderbreit! Schon so früh heute auf dem Fang nach irgendeiner heidnischen Seele gewesen?«

»Weniger nach einer heidnischen als einer christlichen«, lächelte der Missionar gutmütig, denn er wußte, wie die Scherze des alten Herrn gemeint waren.

»Nach einer christlichen?«

»Ja, ich suchte Fräulein Bernold, um sie zum Frühstück zu rufen, und – glaubte dabei, sie hätte ihren Spaziergang wieder zu jener Stelle von gestern abend unternommen. Leider fand ich mich aber getäuscht.«

»Sieh, sieh, sieh, sieh!« sagte der alte Herr kopfschüttelnd, »was das für eigenartige Studien sind, die Sie hier beginnen. Dabei werden Sie aber verwünscht wenig Malaiisch lernen, und ich wüßte Ihnen wohl ein besseres Mittel zu nennen.«

»Und welches, wenn man fragen darf?«

»Später einmal vielleicht – später. Jetzt wollen wir erst unser Frühstück einnehmen, denn da kommt auch Mynheer van Straaten mit meiner Schwester. – Guten Morgen, ihr Leutchen, guten Morgen; aber ihr macht lange heut, und wir werden dadurch einen späten Aufbruch bekommen.«

»Was tut das?« sagte van Straaten. »Wir kommen doch bald in die Berge, und dort wird die Luft schon kühl.«

»Nur mit dem Unterschied«, lachte Lockhaart, »daß du gar nicht in die Berge kommst, sondern mit mir zurück nach Batavia mußt.«

»Den Teufel auch!« rief van Straaten, »und weshalb?«

»Einmal brauch' ich dich in Buitenzorg, du weißt schon weshalb«, sagte Lockhaart mit einem verstohlenen Blick auf seine Schwester, »und dann möcht' ich dich auch des Herrn Joost wegen in Batavia haben, aber ich erkläre dir das alles unterwegs.«

»Aber die Damen?« sagte van Straaten und sah erstaunt zu seinem Schwager und dann zu Hedwig auf.

»Die wird Wagenaar begleiten«, erwiderte Lockhaart, »er tut mir das schon zu Gefallen.«

Wagner verbeugte sich leicht und lächelnd. Van Straatens Blick fuhr aber blitzschnell von Hedwig hinüber zu ihm und dann zurück zu dem jungen Mädchen, und leise und vergnügt vor sich hinpfeifend, rieb er sich die Hände und sagte dann, dem einen Malaien winkend: »Gib mir einmal den Kaffeepott herüber, mein Junge; alle Wetter, wo hat denn Soltersdrop seine Spieldose, daß er noch nicht einmal den ›Jungfernkranz‹ oder ›So leben wir, so leben wir‹ losgelassen hat!«

»Nicht wahr, Mynheer?« rief der arme Teufel von Wirt, der indessen hinten im Saal damit beschäftigt gewesen war, eine zerbrochene Fensterscheibe wieder einzusetzen. Dabei überwachte er seine Malaien und kam jetzt, als er seine Spieldose erwähnen hörte, nach vorn an den Tisch. »Mynheer Lockhaart hat den Schlüssel eingesteckt und ihn noch nicht zurückgegeben.«

»Alle Wetter«, lachte Lockhaart, indem er nach seiner Westentasche griff, »das hab' ich wirklich vergessen! Er muß in der Weste stecken, die ich gestern anhatte. Nun, Soltersdrop, sobald wir gefrühstückt und die Pferde vor dem Wagen haben, sollt Ihr den Schlüssel wiederbekommen, und dann könnt Ihr die unglückliche Maschine vierundzwanzig Stunden nacheinander laufen lassen.«

»Dann begleitet uns also Mynheer Wagenaar nach Tjoemboeloeit?« sagte Mevrouw van Straaten, indem sie freundlich zu dem jungen Mann hinübersah. »Auch schön; in dem Fall kann ich meinen Alten recht gut entbehren, und Hedwig und ich werden uns schon mit ihm vertragen.«

Es war ein paarmal, als ob Salomon Holderbreit seine Dienste nochmals anbieten wolle, und er öffnete auch schon in der Tat ein- oder zweimal dazu den Mund, war aber doch vielleicht zu stolz, sich noch einmal abweisen zu lassen. Außerdem gefiel ihm auch Herrn Wagners Gesellschaft nicht. Wäre van Straaten der einzige Begleiter gewesen, dann hätte er sich doch vielleicht kaum abhalten lassen, die interessante Tour in die nächsten Tee- und Kaffeeplantagen mitzumachen, aber so -

Das Frühstück war beendet. Lockhaart hatte Gelegenheit gefunden, ein paar Worte leise mit van Straaten zu wechseln, der, ohne eine einzige Silbe dabei zu sagen, nur seine Hand gegen Wagner ausstreckte und dessen Rechte derb und herzlich drückte. Draußen fuhr ein Wagen vor. Es war der, welcher die Damen und Wagner in die Berge führen sollte.

»Also an Nitschke soll ich mich wenden, wenn ich in die Stadt komme?« sagte Lockhaart zu dem jungen Mann, während die Damen in ihre Stube gegangen waren, um die nötige Reisetoilette zu machen.

»Vertrauen Sie ihm in jeder Hinsicht«, erwiderte Wagner. »Er kann Ihnen auch über alles, was Sie brauchen, die beste Auskunft geben.«

»Das nötigste wird doch sein, daß wir Heffken gleich verhaften lassen.«

»Das allerdings; aber trotzdem möchte ich Sie bitten, vorher in unserem Geschäft vorbeizufahren und meinem Kompagnon wie Herrn Nitschke zuerst die Mitteilung zu machen. Möglich, daß inzwischen manches vorgefallen ist, was Ihnen nützlich sein könnte.«

»Gut! Ich muß ja doch dort vorbei. Aber da sind die Damen, Wagenaar, ich glaube, Sie haben heut das große Los gewonnen, und ich bedaure vielleicht heute zum erstenmal, daß ich nicht dreißig Jahre jünger bin. Aber nun auch fort, denn wir dürfen keine Zeit weiter verlieren. Ich habe eben zum Residenten hinuntergeschickt und anfragen lassen, ob Herr Joost mit seinem Gefangenen bereit zur Abfahrt sei. Bis der Bote zurück ist, habe ich anspannen lassen. Haben Sie nichts von – von dem Jungen gehört? Wagenaar – ich möchte doch nicht, daß wir irgend etwas...«

»Ich habe mich selber heute morgen nach ihm erkundigt. Sie kommen leider zeitig genug nach Buitenzorg, denn seine Unmäßigkeit im Essen und Trinken hat ihm ein Fieber eingetragen, das ihn wahrscheinlich für ein paar Tage an sein Lager fesseln wird. Keinesfalls ist er in dieser Zeit zu transportieren, und der Resident ließ Sie bitten, bei ihm vorbeizufahren, um den Bericht gleich selber mit nach Buitenzorg zu nehmen.«

»Gut, gut«, nickte der alte Mann leise mit dem Kopf, »Vielleicht ist es besser so, denn jedenfalls haben wir jetzt Zeit, Schritte zu seinen Gunsten zu tun, ehe ihn die Strafe der Gesetze trifft. Das Schlimmste muß doch verhütet werden. Aber ich sehe, die Damen steigen schon ein – allons, Wagenaar, auf Ihren Platz. Ende der Woche sehen wir uns ja doch wieder in Batavia, und bis dahin tausendmal Glück und Segen!«

Die beiden Männer drückten sich die Hand, und das gewöhnliche Durcheinander beim Einsteigen einer Gesellschaft, mit Hinaufreichen von Eßkörben und Regenschirmen etc., nahm zunächst alle anderen in Anspruch. Van Straaten war aber schon in sein Zimmer gegangen, um sich ebenfalls zur Abreise vorzubereiten, da er ja nicht wieder nach Bandong zurückkam, Lockhaart stand an der Tür und sah den Davonfahrenden nach, und Salomon Holderbreit, der ihnen beim Einsteigen behilflich war, kehrte jetzt langsam und nachdenklich zum Hotel zurück.

Lockhaart verharrte noch immer in seiner Stellung, und auch der Missionar schien in tiefen Gedanken, so daß die beiden Männer eine ganze Weile schweigend nebeneinander standen. Der Geistliche sammelte sich aber zuerst wieder. Er hatte etwas auf dem Herzen, über das er mit dem alten Herrn sprechen wollte, und es war fast, als ob er einen gewaltsamen Anlauf dazu nehmen müsse.

»Sehr verehrter Herr Lockhaart«, sagte er.

Lockhaart drehte sich rasch zu ihm um, strich sich mit der Hand über das Gesicht und sagte ruhig: »Ah, Mynheer Heidenbekehrer! Sie sind also nicht mit hinauf in die Berge gefahren?«

»Warum spotten Sie immer über meinen Beruf, Herr Lockhaart?« erwiderte ihm Holderbreit mit freundlichem Vorwurf. »Ich lege doch niemandem etwas in den Weg und habe, wie Sie mir selber als Christ gar nicht ableugnen können, ein gutes und edles Ziel vor Augen, ob ich das nun erreiche oder nicht. Sie sind auch außerdem gar nicht so schlimm, wie Sie sich machen, und von Herzen ein guter und ehrenhafter Mensch – weshalb also immer diesen Spott gegen die Religion, der Ihnen nicht von Herzen kommen kann.«

»Hoho«, lachte Lockhaart, »jetzt wollen Sie mich mit Schmeicheleien ködern, aber damit richten Sie nichts aus. Außerdem leugne ich Ihnen, daß ich über die Religion spotte – ich möchte das nicht einmal über die chinesische tun, viel weniger gegen die christliche.«

»Also glauben Sie doch...«

»Bitte, bemühen Sie sich nicht«, sagte der alte Mann. »Mein Glaubensbekenntnis ist sehr einfach: Ich glaube an einen Gott und an gar keinen Geistlichen.«

»Lassen wir das«, sagte der Missionar ausweichend, »ich bin nicht nach Java gekommen, um Sie zu bekehren, sondern das Heil...«

»Noch verstockteren Menschen zu bringen«, lachte Lockhaart.

»Vielleicht ja. Gegenwärtig aber möchte ich mit Ihnen einmal nicht über Religion, sondern über etwas ganz anderes, Weltliches sprechen, obgleich es unserem heiligen Beruf auch nicht fernsteht.«

»Und das wäre?« fragte Lockhaart gespannt.

Holderbreit zögerte einen Augenblick, aber der Wagen fuhr vor, und er hatte nicht mehr viel Zeit. Lockhaart sah auch schon ungeduldig zu ihm hinüber, und der Wirt kam mit einer halben Verbeugung schmunzelnd an des alten Herrn Seite und flüsterte: »Vergessen Sie den Schlüssel nicht, Mynheer -«

»Ihren Schlüssel – ja so – ich habe ihn eben gesehen. Er liegt drin in meiner Stube unter dem Spiegel. Laß nur die Sachen hinuntertragen, Lodewijk; ich bin gleich draußen. Hast du unsere Rechnung beglichen?«

»Alles in Ordnung.«

»Gut. Also, Mynheer Holderbreit, ein wenig rasch, wenn ich bitten darf. Was wollten Sie mir noch sagen?«

»Da ich mit der Zeit so gedrängt werde, muß ich mich in der Tat kurz fassen«, sagte der Geistliche, »nur das als Einleitung, daß ich zu meinen Lebensbedürfnissen keineswegs allein auf mein Einkommen als Geistlicher und meine Diäten angewiesen hin. Ich habe ein, wenn auch nicht großes, doch recht nettes Vermögen von Haus aus, das...«

»Aber was, um Gottes willen, geht denn das mich an?«

»Das sollen Sie gleich erfahren.«

»Bist du fertig, Martijn?«

»Den Augenblick – also?«

»Ich habe im Sinn, mich hier ganz auf der Insel niederzulassen, um Sitten und Sprache richtig von der Basis her zu erlernen, nur um dann meinen Beruf mit soviel mehr Erfolg ausüben zu können. Das Wirtshausleben ist dazu einesteils nicht geeignet, andernteils zu teuer, und...«

»Aber was um alles in der Welt schert denn das mich?«

»Ich will deshalb heiraten«, fuhr Holderbreit, so gedrängt, fort, »und wünsche dazu nicht allein Ihren Rat, sondern auch Ihre Fürsprache.«

»Meine Fürsprache?« fragte Lockhaart, und ein eigentümliches Lächeln zuckte ihm durch das gefurchte Antlitz und blieb um seine Lippen haften.

»Ja«, sagte aber der Missionar, »meine Wahl fiel auch nicht etwa über meinem Stand, sondern eher darunter, aber ich glaube, daß die junge Person meiner würdig ist und ich damit keinen Fehlgriff getan habe.«

»Und?«

»Ich meine unsere Reisegefährtin, Mamsell Bernold«, sagte Salomon Holderbreit, »die jetzt gezwungen ist, ihr Brot als Gesellschafterin...«

»Gehen Sie zum Teufel!« unterbrach ihn aber auf etwas rauhe und plötzliche Weise der alte Herr und war mit zwei Sätzen die Treppe hinab und unten beim Wagen.

Salomon Holderbreit stand wie vom Schlag gerührt; aus dem Saal aber tönten in diesem Augenblick die sanften Laute von ›Freut euch des Lebens‹ triumphierend herüber und schienen seiner nur noch mehr zu spotten.

»Vorwärts, Kutscher, vorwärts!« rief der alte Herr, »da geht die verfluchte Dudelei schon wieder los!« Und mit einem Hurra und gellenden Schrei, der einer Indianerhorde Ehre gemacht hätte, sprangen die umstehenden Malaien auf die erschrocken zusammenfahrenden Pferde ein. Der Kutscher behielt kaum Zeit, die Zügel zusammenzuraffen, denn im nächsten Moment rissen sie schon den Wagen mit einem so plötzlichen Ruck nach vorn, daß die Stränge klangen, und Staub und Kies wirbelten hinter den Rädern drein, als das flüchtige Fuhrwerk im nächsten Moment hinter einer dichten, selbstgeschaffenen Wolke verschwunden war.


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