Friedrich Gerstäcker
Unter dem Äquator
Friedrich Gerstäcker

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Klar und hell leuchteten die Sterne indessen auf die erschütterte Erde herunter, und der eben aufgehende Mond warf sein mattes, silbernes Licht durch die riesigen Bäume und spielte mit den zitternden Schatten auf dem Boden. Tiefes, erwartungsvolles Schweigen herrschte noch unter den aufgestörten Europäern, die wenigstens ihr Leben vor etwa stürzendem Gebälk in Sicherheit gebracht hatten, während die Javaner nicht aufhörten, dem »Lenu« ihr Dasein ins Gedächtnis zurückzurufen. Es kam aber kein weiterer Stoß; die furchtbare unterirdische Kraft, die gerade auf Java so viele offene Sicherheitsventile hat, schien sich erschöpft zu haben, und nur das leise Schwanken der Astrallampen im Innern des Hauses verriet noch die bestandene Gefahr. Solche kleinen Erderschütterungen sind aber auf Java viel zu häufig, als daß sie einen nachhaltigen Eindruck auf die dortigen Bewohner ausüben könnten. Ein wirklich in seinen Folgen verderbliches Erdbeben war außerdem seit Menschengedenken nicht vorgekommen. Die niedrigen, festen Häuser leisteten den schwachen vereinzelten Erdstößen vortrefflichen Widerstand, und erst einmal davon überzeugt, daß die größte Gefahr vorüber sei, gewann der daran gewöhnte Sinn der Bevölkerung bald wieder die Oberhand. Allerdings ist solch ein Erdstoß eine wunderbar tüchtige Mahnung der furchtbaren Kraft, die um uns her und unter uns schlummert, und nie fühlt der Mensch so demütigend gering seine Schwäche, als wenn er den Elementen gegenübersteht – aber auch nur eben so lange. Denn kaum ist alles vorüber, schwimmt auch das alte, leichtherzige Geschlecht schon wieder oben mit vollen Segeln. Die Gefahr ist vergessen, wenn überhaupt eine Gefahr gedroht hat – die Vergangenheit liegt zurück, und nur der Gegenwart lebt das fröhliche, leichtsinnige Menschenvolk.

»Hat ja nichts zu sagen«, lachte Romelaer, der nichtsdestoweniger ebenso wie die übrigen so rasch wie möglich in den Garten geflohen war, »Lenus Haare sind wieder glatt; unsere braunen Burschen haben ihn von ihrem wertvollen Dasein überzeugt, und wir können ruhig wieder hineingehen. Donnerwetter, Heffken, ich habe im Leben nicht geglaubt, daß Ihr die Beine so werfen könntet – Ihr flogt wie ein Kiedang über die Stühle weg.«

»Davon ganz abgesehen«, sagte Heffken, der wieder seine volle Ruhe erlangt hatte, »daß es eben nicht angenehm ist, einen Balken mit einigen Zentnern Kalk auf den Kopf zu bekommen, muß ich doch gestehen, daß ich mit Ihnen nicht Schritt halten konnte, Mynheer, Sie warfen die Beine noch geschwinder.«

»Nun ja«, lachte Romelaer treuherzig, »ich kann nicht leugnen, daß ich ebenso rasch wie die anderen Herrschaften ausgekniffen bin, denn der Teufel trau diesem Schütteln. Hundertmal geht es gut ab, und einmal wirft es einem doch die Bescherung über dem Kopf zusammen, und – sicher ist sicher. Aber jetzt haben wir nichts mehr zu befürchten; Noorten, Ihr könnt Gott danken, daß das Haus zu wackeln anfing, denn nichts anderes hätte Euch vor einem Beetje retten können. Ehe er aber fortging, warf er die Karten noch durcheinander – der ist bei Gott so klug wie ein Mensch.«

Die übrigen Gäste lachten, und es herrschte – ein paar Damen ausgenommen, die noch immer den Schreck nicht überwunden hatten und bis zu diesem Augenblick unentschlossen schienen, ob sie in Ohnmacht fallen sollten oder nicht – schon wieder der frühere Frohsinn, mit dem sie sich jetzt über die ausgestandene Angst lustig machten.

Ohne weitere Besorgnis kehrte auch alles wieder in den Salon zurück, und jeden interessierte es jetzt besonders, sich genau des Moments zu erinnern, in dem ihn der erste Stoß überraschte.

»Verd...«, lachte Romelaer, als sie wieder in dem inneren Raum standen und die Verwüstung betrachteten, die der erste Schreck hervorgerufen hatte, »da sieht es lecker aus! Na, wenn die Burschen draußen mit ihrem Lenu-Schreien fertig sind, werden sie vor allen Dingen die Scherben auflesen müssen. Sapáda! Herein mit euch, ihr Halunken, und hier an die Arbeit, nachher könnt ihr brüllen, soviel ihr wollt!«

»Der Stoß kam mir sehr ungelegen«, sagte Noorten, »der letzte Stich hätte das ganze Spiel entschieden, und ich mußte es gewinnen.«

»Waarachtig niet!« rief aber Romelaer, »nun sieh einer den Vent an; ich hatte den Trumpf schon zum Niederschlagen in der Hand.«

»Guter Gott!« rief eine der Damen, eine fast überfette Matrone, die von Seide strotzte und riesige Blumen in ihr Haar geflochten hatte, »da saß ich, auf dem Fleck, und eben wollt' ich die Tasse an den Mund bringen, als sie mir der furchtbare Erdstoß aus der Hand und dort auf das Sofa warf.«

»Ja, und mir auf das Kleid«, sagte eine andere Dame, die Frau eines Cochenille-Kontraktors aus dem Innern.

»Dann hat's auf dem Sofa ärger gestoßen als anderswo«, lachte Romelaer. »Möglich, daß dort gerade das eigentliche Herz vom Erdbeben saß, und wär' es zum Ausbruch gekommen, hätten wir Sie vielleicht in einer Flammensäule gen Himmel fahren sehen – eine zweite Frau Elias – oder wie hieß der Mann gleich in dem feurigen Wagen?«

»Um Gottes willen, spotten Sie auch noch!« rief die alte würdige Dame entsetzt; »Mir ist der Schreck so in die Glieder gefahren, daß ich die nächsten acht Tage werde das Bett hüten müssen.«

»Dann können sich ihre Mädchen freuen«, flüsterte ein junger, neben Heffken stehender Kaufmann diesem zu, »denn die müssen ans Bett kommen, um sich ihre Prügel zu holen, wenn die alte Schachtel keine Lust zum Aufstehen hat.«

»Ich wollte mir gerade eine Zigarre anzünden«, erzählte ein anderer, »als mir der Junge mit der Lunte zu wackeln anfing.«

»Und wir haben alle mitten im Takt mit unserer Sonate aufgehört«, lachte Marie, »das muß wunderbar geklungen haben, wenn es nur irgend jemand hätte hören können.«

»Sind Sie erschrocken, Marie?« fragte Wagner leise.

»Ja«, flüsterte das schöne Mädchen errötend, »wenn ich aufrichtig sein will. Sie haben mir aber weh getan, denn Sie faßten mich so furchtbar heftig am Arm.«

»Ich sah«, gestand Wagner verlegen, »daß Sie nicht so rasch durch die übrigen hindurch konnten, und fürchtete...«

»Daß mir das Dach auf den Kopf fiel?« lächelte das Mädchen. »Es hat keine Gefahr. Ich weiß mich schon auf sechs oder acht solche Erdstöße zu besinnen, die aber alle harmlos wie dieser abgelaufen sind. Der plötzliche Schrecken richtet gewöhnlich die einzige Verwirrung an.«

»Jetzt möcht' ich nur wissen«, lachte Romelaer, »was van Roekens junge Frau heut abend angefangen hat – die fürchtet sich ja so entsetzlich vor einem Erdbeben. Verd... wie das letzte war, ist sie aus dem Bett heraus, wie sie war, und vors Haus und dort in einen noch zufällig haltenden Bendi gesprungen, und der Junge, der auf dem Bock saß, hat Hals über Kopf mit ihr davonfahren müssen.«

»Nun, so jung ist die Frau doch auch nicht mehr«, bemerkte eine der Damen in dem unbestimmten Alter der Zwanziger, »und als ›Eingeborene‹ sollte sie doch eigentlich daran gewöhnt sein.«

»Sie sind boshaft, mein gnädiges Fräulein«, sagte Heffken; »Eingeborene nennen wir doch eigentlich nur die Malaien, und Mevrouw van Roeken ist wenigstens von halber Rasse. Übrigens hat er einen goldenen Vogel damit gefangen.«

»Wie ist das eigentlich gekommen, Wagner?« sagte Romelaer, den Arm des jungen Mannes nehmend und ihn beiseite führend, »ich weiß, daß Roeken die Liplaps früher gar nicht ausstehen konnte.«

»Ich kann es wirklich nicht sagen«, erwiderte der Gefragte ebenso leise, »die Heirat ist vollkommen plötzlich arrangiert worden und hat mich ebenso überrascht wie jeden anderen, ja ich glaube, wie van Roeken selber. Wenn mich nicht alles täuscht, hat die Dame übrigens ihre Hand selber angeboten und van Roeken wahrscheinlich dem lockenden Vermögen nicht widerstehen können.«

»Wenn nur die Sache gut geht.«

»Es war in mehr als einer Hinsicht ein unüberlegter Streich«, seufzte Wagner leise vor sich hin und fast mehr zu sich selber als seinem Begleiter redend.

»Inwiefern?« sagte dieser.

»Oh – die – die Verschiedenheit des Alters schon«, meinte Wagner ausweichend, »Mevrouw ist doch wenigstens zwei oder drei Jahre älter als van Roeken, und das tut hier in Indien nicht gut.«

»Nein«, nickte Romelaer, »übrigens mögen die beiden sehen, wie sie miteinander fertig werden. So recht, Sapiri«, wandte er sich dann an einen der Malaien, der emsig beschäftigt war, die umherliegenden Scherben aufzusuchen und äußerst vorsichtig zwischen den Splittern herumtrat, »nimm besonders deine Füße in acht, mein Junge. Dort bei Mevrouw liegt noch eine halbe Tasse und da drüben der Löffel dazu – was der Kerl für ein Gesicht schneidet, und wie mißtrauisch er immer nach der Decke hinaufsieht.«

Mit den fortgetragenen Spuren der letzten Verwüstung dachte aber niemand mehr an den ausgestandenen Schreck. Die Sache war vorbei, und man lachte jetzt höchstens noch über die komischen Szenen, die dabei vorgefallen waren. Auch das Quartett fand sich wieder zusammen, um die unterbrochene Sonate wenigstens zu Ende zu spielen, aber es war schon keine rechte Andacht mehr dazu da. Besonders die jungen Leute wollten tanzen, und eine der jungen Damen gab durch einen frischen Walzer, den sie selber spielte, die erste Anregung dazu. Das übrige fand sich bald von selbst. Die Tische und Stühle wurden beiseite geschoben, und während die älteren Herren schon lange wieder ihr vorher unterbrochenes Spiel aufgenommen hatten, flogen die jungen Paare lustig durch den Saal und auf dem glatten Marmorboden dahin. Nur Wagner war still und schweigsam; Marie, die den ersten Walzer mit ihm tanzte, neckte ihn, daß ihm das Erdbeben noch in den Gliedern liege, aber er schützte Kopfweh vor, sah auch bleich und angegriffen aus, und bat bald darauf seine schöne Tänzerin, sich beurlauben zu dürfen.

Marie schien am Anfang ein wenig pikiert darüber; daß ihm aber nicht ganz wohl sei, sah sie ihm selber an, und wenige Minuten später rollte der junge Mann in seinem Bendi am Kali besaar wieder hinab und van Roekens Wohnung zu. Diesen fand er indessen noch nicht zu Haus – Mevrouw van Roeken war in Gesellschaft, Mynheer aber, wie ihm einer der Malaien sagte, wahrscheinlich noch in der Harmonie, einem batavischen Gesellschaftslokal, und sein Kutscher bekam den Befehl, ihn dorthin zu fahren. Er mußte van Roeken heute noch sprechen.


 << zurück weiter >>