Friedrich Gerstäcker
Unter dem Äquator
Friedrich Gerstäcker

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25. Nitschkes Verhaftung

Noch rollten die Bendis das kleine Gäßchen entlang, und Wagner hatte sich eben der Ecke genähert, als ein Javaner, ein schlanker Bursche mit dunkelbrauner Hautfarbe, seinen Kris im Gürtel, aus einer der kleinen niedrigen Türen rasch hervorglitt und die Straße hinab wollte. Erschrocken prallte er aber vor dem Anblick des Weißen, den er hier keinenfalls mehr vermutet hatte, zurück und sprang wieder in dieselbe Tür hinein, die er hinter sich schloß und verriegelte. Deutlich konnte Wagner das Geräusch des vorgestoßenen Riegels hören, sich aber nicht erklären, weshalb er der braunen Gestalt einen solchen Schrecken einjagte. So flüchtig er indessen das Gesicht auch nur gesehen hatte, so bekannt kam ihm doch die ganze Gestalt des Mannes vor, dem er jedenfalls schon früher einmal begegnet sein mußte. Wo, darauf konnte er sich aber den ganzen Weg über nicht besinnen, obgleich er herüber und hinüber und an alle ähnlichen Szenen dachte, bei denen er schon mit den Javanen der Berge, die sich von den eigentlichen Malaien wesentlich unterscheiden, in Berührung gekommen war. Es fiel ihm nicht mehr ein, und als er bald darauf sein Geschäft betrat, vergaß er auch die ganze Gestalt mit ihrem plötzlichen Erscheinen und Verschwinden. Der Geschäftsbezirk war ziemlich leer; die meisten Kaufleute waren schon heimgefahren, und nur noch hier und da rollten die einzelnen Bendis die Straße am Fluß hinauf, ihren Wohnungen zu. Seine eigenen Kommis waren ebenfalls schon fort, einen Buchhalter ausgenommen, der Herrn Nitschke die Schlüssel nicht hatte anvertrauen wollen; Nitschke aber wartete, wie es ihm befohlen war, auf seinen Prinzipal.

Herr Nitschke hatte sich in der kurzen Zeit sehr zu seinem Vorteil verändert. Er war sauber und außerordentlich sorgsam gekleidet, und wenn sein Gesicht auch noch hohlwangig und bleich aussah und die Augen noch nicht den früheren Glanz eines gesunden, kräftigen und nüchternen Menschen wiedererlangt hatten, gab ihm doch die Ruhe und glückliche Zufriedenheit, die jetzt auf seinen Zügen lag, wieder etwas Freundliches und Wohltuendes. Er hatte ein ganzes Paket beendeter Briefe, die nur der Unterschrift bedurften, neben sich, und war eben bemüht, sein Schreibpult ordentlich aufzuräumen und abzustauben, als Wagner das Kontor betrat.

»Ah, Herr Beßler, Sie sind auch noch hier?« sagte er zu dem Buchhalter gewandt. »Ich habe mich heute etwas verspätet. Bitte, lassen Sie mir nur die Schlüssel da, und fahren Sie nach Hause; Sie versäumen sonst Ihr Essen. Herr Nitschke, Sie müssen mich heute mitnehmen, denn ich habe meinen Wagen fortgeschickt.«

»Wenn Sie wirklich mit mir fahren wollen, Herr Wagner«, sagte der Mann, und es lag in den wenigen Worten eine solche Demut und doch so stille, resignierte Ruhe, daß ihm Wagner gerührt die Hand reichte und freundlich sagte: »Mein lieber Herr Nitschke, fahren Sie so fort, wie Sie angefangen haben; bewahren Sie sich diesen festen, beständigen Sinn, und ich hoffe, daß wir sogar noch recht gute Freunde werden sollen. Sie haben heute das Mögliche geleistet, und ich bin vorderhand mit Ihrer Arbeit sehr zufrieden. Die Briefe, die ich bis jetzt von Ihnen las, sind verständig, kurz und bündig, und dabei korrekt; vergessen Sie nur erst einmal Ihr altes Leben, und alles übrige wird sich leicht machen.«

»Ich habe den besten Willen, Herr Wagner«, sagte Nitschke ruhig, »und nachdem ich alle Schulen des Leichtsinns – ich mag wohl sagen bis zur Neige – durchgekostet habe, fühle ich selber, daß es die höchste Zeit wird, von einem solchen Leben Abschied zu nehmen. Es wäre freilich sogar jetzt schon zu spät gewesen, wenn Sie mir nicht noch einmal die Hand geboten und es mit mir versucht hätten. Ich weiß, daß dies meine letzte Chance ist, und ich wäre mehr als leichtsinnig, ich wäre wahnsinnig, wenn ich auch diese Hilfe wieder verspielte.«

»Ich hoffe, daß Sie diesmal aushalten«, sagte Wagner lächelnd, »keinenfalls werde ich Ihnen aber, wenn das Gegenteil eintreten sollte, eine Pistole anvertrauen.«

»Herr Wagner«, stotterte Nitschke und wurde blutrot.

»Nun, lassen Sie es gut sein«, sagte Wagner freundlich, »das ist lange vorüber und vergessen; wenn es Ihnen nicht zu spät ist, wollen wir nur noch die Briefe rasch abschließen. Die Briefe nach Australien und Chile segeln morgen, und sie sollten deshalb lieber heute abend noch fertig werden.«

Bei diesen Worten nahm er an dem Pult Platz, sah die Briefe, die Nitschke geschrieben hatte, rasch durch und unterzeichnete sie, während dieser neben ihm stehenblieb und die ihm zugereichten gleich adressierte und versiegelte.

Noch während sie so beschäftigt waren, wurden draußen Schritte hörbar, und als sich Wagner danach umsah, trat einer der batavischen Polizeibeamten in das Kontor.

»Ah, guten Abend, Mynheer Wagenaar«, sagte er, sehr höflich grüßend, »ich sah nur, daß Ihr Kontor noch offen war, und glaubte, einen Ihrer Leute hier zu finden. Sie selber werden mir wohl schwerlich Auskunft geben können.«

»Und was wünschen Sie?« fragte Wagner, während Nitschke ruhig in seiner Arbeit fortfuhr.

»Ach«, meinte der Mann, »da ist am letzten Sonntag, eine fatale Geschichte passiert – gestern war's, denn soviel ist ziemlich sicher, daß es in der Nacht von Sonnabend auf Sonntag nicht geschehen sein kann. Da ist nämlich in Herrn Heffkens Privatbüro von ein paar Leuten, die sich dort genau auskennen müssen, eingebrochen worden, und von allen, an die wir denken können, hängt nur allein Verdacht an einem Landsmann von Ihnen, einem Herrn Nitschke, der aber jetzt nirgends in der Stadt zu finden ist. Jedenfalls hat er sich aus dem Staub gemacht, und ich wollte jetzt nur einmal in den deutschen Geschäften nachfragen, ob mir nicht einer der Herren vielleicht einen Wink geben könnte, wo er möglicherweise aufzutreiben wäre, denn daß er nicht per Schiff fortkommt, dafür ist gesorgt.«

Nitschke hatte bei der Nennung seines Namens aufgehorcht, und sich jetzt langsam zu dem Polizeibeamten herumdrehend, sagte er: »Vielleicht wäre ich imstande, Ihnen auf seine Spur zu helfen.«

»Herr Nitschke!« rief der Beamte aber ordentlich erschrocken aus, als er den Mann, den er noch vor wenigen Sekunden eines Einbruchs schuldig, flüchtig oder versteckt glaubte, hier im vollen Gefühl der Sicherheit vor sich sah, »alle Wetter, wo kommen Sie denn her?«

»Sie betrachten mich«, sagte Nitschke lächelnd, »als ob ich eben aus den Wolken gefallen wäre. Wünschen Sie etwas von mir?«

»Hm«, sagte der Mann erstaunt, »haben Sie gehört, was ich eben erzählte?«

»Allerdings«, erwiderte Herr Nitschke.

»Nun denn – Gott verd... mich – dann – sehen Sie mir nicht gerade aus, als ob Sie den Diebstahl begangen hätten.«

»Ich danke Ihnen«, sagte Nitschke freundlich, »kann Ihnen auch die Versicherung geben, daß Sie sich nicht irren. Darf man aber wohl fragen, wer einen solchen Verdacht gegen mich ausgesprochen hat?«

»Ja – ich weiß nicht«, sagte der Polizeibeamte etwas unschlüssig, »eigentlich sollte die Sache wohl geheim bleiben. Sie, als die Hauptperson, müßten es aber doch erfahren. Es ist nämlich ein kleines Zahnstocheretui im Kontor gefunden...«

»Aus Schildpatt?«

»Ja, ganz recht.«

»Auf dem ein N eingekratzt ist.«

»Allerdings – trifft aufs Haar.«

»Das ist meins«, sagte Nitschke ruhig, »und es ist mir sehr lieb, daß es sich wiedergefunden hat. Von allen aus Europa mitgebrachten Andenken«, setzte er wehmütig hinzu, »war es das letzte, und sein Verlust hat mich schon geschmerzt.«

»Also Sie waren oben?« fragte der Beamte.

»Allerdings«, erwiderte Nitschke, »ich war am Sonnabend abend bei Herrn Heffken, um ihn, da ich früher schon in seinem Kontor gearbeitet hatte, wieder um Beschäftigung zu bitten.«

»Hm, hm, hm«, brummte der Mann des Gesetzes vor sich hin, denn das alles stimmte nicht mit dem Bild überein, das er sich bis dahin von Herrn Nitschke, als dem einzig möglichen Verbrecher, entworfen hatte, »das ist ja eine sehr, sehr merkwürdige Geschichte, und der Herr Heffken hat sich da wahrscheinlich bös geirrt. Was läßt sich aber tun? Der Befehl ist einmal gegeben und muß ausgeführt werden. Herr Nitschke, es tut mir schrecklich leid, aber ich habe den Auftrag, Sie zu verhaften, und kann es eben nicht ändern. Sie müssen mit mir kommen.«

Wagner hatte während der Beschuldigung Nitschke scharf beobachtet, war aber schon nach den ersten Sekunden fest überzeugt, daß er der Täter auf keinen Fall gewesen sei. Frech leugnen kann auch der Schuldige, aber diese Ruhe, die auf seinen Zügen, in seinen Augen lag, konnte keine Verstellung sein.

»Lieber Freund«, sagte er deshalb zu dem Beamten, »Sie scheinen selber einzusehen, daß der Verdacht ein unbegründeter ist. Was mich betrifft, so bin ich von Herrn Nitschkes Unschuld überzeugt und erbiete mich, Ihnen jede beliebige Bürgschaft zu leisten, daß er sich zu jedem anberaumten Verhör pünktlich einstellen wird. Sind Sie damit zufrieden?«

»Ich wär's von Herzen gern, Herr Wagner«, sagte der Mann, »aber Sie kennen meine Stellung. Die Herren da unten lassen nicht mit sich spaßen, und Befehl ist nun einmal Befehl – wozu werden sie gegeben, wenn man sie nicht ausführen will?«

»Das ist schon richtig, aber der Befehl soll ausgeführt werden. Ich hafte Ihnen für das Erscheinen des Angeklagten, und das Gericht ist der Sorgen und Kosten enthoben, ihn hinter Schloß und Riegel zu halten.«

»Klingt sehr schön«, meinte der Mann des Gesetzes, »ist aber doch nicht wahr. Einen müssen sie haben, schon der Autorität wegen, und wenn ich den nicht bringe, den sie einstecken wollen, dann komme ich vor allen Dingen in Teufels Küche, daß ich auf eigene Faust gehandelt habe. Herrn Nitschke holen sie sich nachher doch – wäre also kein weiterer Gewinn dabei, als daß er heute vielleicht noch sein Mittagessen in Ruhe und Frieden verzehren könnte. Der Mond schiene ihm heute nacht durch ein eisernes Gitter aufs Bett – wenn man die Hundelager da drin überhaupt ein Bett nennen kann.«

»Lassen Sie es gut sein, Herr Wagner«, lächelte Nitschke. »Der gute Mann hat mich einmal und ist entschlossen, mich zu halten. Die Sache wird keine weiteren Folgen haben, als daß sich meine Abrechnung mit Herrn Heffken vergrößert. Leid tut es mir nur, daß ich wieder für einige Tage aus dem Geschäft und meiner Arbeit gerissen werde, in die ich mich gern erst recht tüchtig hineingefunden hätte. Sie müssen schon Geduld mit mir haben; geschieht es doch diesmal nicht durch meine Schuld – wenn es auch eine Folge meines früheren Lebens ist.«

»Dann bring' ich Sie wenigstens selber hinunter«, sagte Wagner entschlossen, »dort wird sich eher etwas ausrichten lassen.«

»Sie werden schwerlich noch einen der Herren im Büro finden«, meinte der Beamte, »mit dem ersten Glockenschlag haben sie schon den Hut auf, und mit dem letzten sitzen sie unten im Bendi, und jetzt ist es fast eine Stunde über die Zeit.«

Der Mann hatte recht; es war inzwischen schon völlig dunkel geworden. Wagner ließ sich aber von dem einmal gefaßten Vorsatz nicht wieder abbringen, steckte die Briefe zu sich, um sie später selber zu besorgen, schloß dann zu und fuhr mit Herrn Nitschke, von dem Polizeibeamten dicht gefolgt, in das Stadthaus hinab. Unterwegs erzählte Wagner seinem Begleiter, wo und wie er heute seinen Freund Horbach gefunden hatte, und versuchte dann Nitschke über diese augenblickliche Unannehmlichkeit, die ihn betraf, zu trösten. Nitschke war aber vollkommen ruhig und gelassen; außerdem blieb ihnen nicht lange Zeit zur Unterhaltung, denn bald darauf hielten sie vor dem Stadthaus, wo sich leider die Aussage des Beamten bestätigte. Von den Herren, die eine Bürgschaft Wagners für den jetzigen Gefangenen hätten annehmen können, war kein einziger mehr zugegen, und es blieb in der Tat nichts weiter übrig, als Herrn Nitschke dort bis morgen in Gewahrsam zu lassen. Wagner sorgte indessen dafür, daß er augenblicklich sein Essen geholt bekam, und zwar andere Kost, als sie den Gefangenen dort verabreicht wurde, versprach ihm, morgen früh gleich zu Beginn der Bürostunden wieder herunterzukommen, und entzog sich dem Dank des armen Teufels, indem er rasch in seinen Bendi sprang und davonfuhr.


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